Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 201c

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Vom Punkt zur vierten Dimension. Geometrie für Jedermann.

Inhalt[editar]

INHALT
Vorwort
01. Kapitel: Die ganze Welt ist Geometrie
02. Kapitel: Der Entfernungsmesser des Thales von Milet.
03. Kapitel: Messungsfehler.
04. Kapitel: Vorläufige Bemerkungen über Parallele und Dreiecke.
05. Kapitel: Geometrie der Lage, Maßgeometrie, Raum, Dimension.
06. Kapitel: Probleme des Auges.
07. Kapitel: Projektive Geometrie.
08. Kapitel: Projektive Grundgebilde und der unendlich ferne Punkt.
09. Kapitel: Das Dualitätsprinzip.
10. Kapitel: Vollständige geometrische Figuren.
11. Kapitel: Axiome der Geometrie. Das Axiomensystem Hilberts.
12. Kapitel: Axiome der Verknüpfung und Axiome der Anordnung.
13. Kapitel: Axiome der Kongruenz, Dreiecks-Kongruenzen.
14. Kapitel: Parallelenaxiom, Axiome der Stetigkeit.
15. Kapitel: Schlußbemerkungen zu Hilberts Axiomatik.
16. Kapitel: Übergang zur Maßgeometrie.
17. Kapitel: Grundlegung der Maßgeometrie.
18. Kapitel: Fundamentalsatz der Proportionengeometrie.
19. Kapitel: Die merkwürdigen Punkte des Dreiecks.
20. Kapitel: Arten der Dreiecke.
21. Kapitel: Das Doppelverhältnis.
22. Kapitel: Harmonische Punkte.
23. Kapitel: Der Kreis.
24. Kapitel: Kreisteilung und Kreisvielecke.
25. Kapitel: Arten der Vierecke.
26. Kapitel: Vielecke im engeren Sinne oder Polygone.
27. Kapitel: Konstruktionen und konstruktive Umwandlungen. Flächenmessung.
28. Kapitel: Quadratur des Kreises.
29. Kapitel: Winkelfunktionen.
30. Kapitel: Ebene Trigonometrie des rechtwinkligen Dreiecks.
31. Kapitel: Ebene Trigonometrie des schiefwinkligen Dreiecks.
32. Kapitel: Das Wesen der analytischen Geometrie.
33. Kapitel: Koordinaten, Kurvengleichungen und Funktionen.
34. Kapitel: Analytische Geometrie der Geraden und des Kreises.
35. Kapitel: Analytische Geometrie von Ellipse, Hyperbel und Parabel.
36. Kapitel: Schlußbemerkungen zur analytischen Geometrie.
37. Kapitel: Hauptsätze der Stereometrie.
38. Kapitel: Körperliche Ecken, Satz von Euler, Regelmäßige Polyeder.
39. Kapitel: Prinzip von Cavalieri, Raum-Messung.
40. Kapitel: Konstruktive Lösung von Winkeldreiteilung, Quadratur des Kreises und Würfelverdopplung.
41. Kapitel: Sphärik.
42. Kapitel: Sphärische Trigonometrie.
43. Kapitel: Nichteuklidische Geometrien.
44. Kapitel: Gekrümmte Raume.
45. Kapitel: Geometrie der vierten Dimension und der höheren Dimensionen. Schluß.

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Vorwort
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Vor fast genau einem Jahre schrieb ich mit einem gemischten Gefühl, indem sich Sorge und Optimismus die Waage hielten, das Vorwort zu meinem Buch „Vom Einmaleins zum Integral“. Was mir damals mein Optimismus zuflüsterte, ist überreichlich in Erfüllung gegangen. Die deutsche Ausgabe hat inzwischen die vierte Auflage (das zehnte bis vierzehnte Tausend) erreicht und einige Übersetzungen in fremde Sprachen werden demnächst erscheinen.
Doch auch die Sorge hat mich nicht verlassen. Trotz des günstigen Votums Sachverständiger, trotz eines weiteren Jahres angestrengten Studiums, fühle ich mich heute ebensowenig als Fachmann wie vor einem Jahre. Und darum lag es mir neuerlich ob, auch „diesmal nur mein Erlebnis der Geometrie aufzuzeichnen, wobei ich alle Verpflichtungen eines wissenschaftlich Arbeitenden nach Kräften auf mich zu nehmen suchte, ohne dessen Berechtigungen zu beanspruchen.
In einem Punkte jedenfalls wurde ich in beispielloser Art bestätigt. In meinem Glauben nämlich, daß mein Wahlspruch, der Mensch sei im tiefsten gescheit, eine Tatsachengrundlage besitze. Ich zweifelte nie an kulturellen Möglichkeiten und überlasse es getrost gewissen „geistigen“ Produzenten, ihre eigene Lüsternheit nach Talmi-Erzeugnissen mit der Lüsternheit des Publikums zu verwechseln. Ein bedeutender Mathematiker, der schon vor mehr als vierzig Jahren als Hörer des berühmten Lampe in Charlottenburg 'ähnliche Ansichten vertrat, schrieb mir, der Erfolg meines Buches sei ihm ein Symptom, daß die „mathematische Morgenröte“ anbreche. Von allen Altersstufen und aus allen Kreisen der Bevölkerung mehrerer Länder erreichten mich verstehende und ermunternde Worte, und es ist nicht zuletzt den Wünschen der Kritik und meiner Leser zuzuschreiben, daß ich diese „Geometrie für jedermann“ dem ersten Buche so rasch folgen lasse. Aber auch andere Generalurteile, deren- Berechtigung ich stets bezweifelt hatte, wurden zuschanden. Die berufensten Beurteiler meines ersten Versuches, die mathematischen Pädagogen, sahen in beispielhafter Großzügigkeit und Einmütigkeit über die auch mir genau bewußten Schwächen meiner Darstellung hinweg und ließen meine gute Absicht im Interesse des uns allen gemeinsamen Wahrheitswillens gelten.
Ich selbst bin, wie gesagt, der letzte, der sich an diesem Verhalten der Mitwelt übertriebene Verdienste beimißt. Ich wollte es nur nicht Versäumen, allen zu danken, da ja eine Enttäuschung für mich, weit über das Persönliche hinaus, zum kosmischen Symbol geworden wäre, und ich dann den gewissen Produzenten der Talmi-Erzeugnisse hätte recht geben müssen. :Die Absicht des vorliegenden Buches ist die gleiche wie die des ersten. Es soll allen jenen, die sich mit Geometrie befassen wollen, die aber bisher keinen rechten Zugang zu den strengen und daher auch schwierigeren Fachwerken fanden, ein erster Führer und ein Orientierungsplan sein. Nach einem Ausspruch des großen Leibniz ist die Philosophie erst das Vorzimmer der Weisheit. Wenn ich diesen Spruch variieren darf und auf mein Buch anwende, wäre es gleichsam das „Vorzimmer der Geometrie“. Drinnen, in der heiligen Halle, thronen all die Großen, ein Pythagoras, ein Euklid, ein Archimedes, Napier, Descartes, Legendre, Poncelet, Lobatschefskij, Gauß, Riemann, Beltrami, Veronese, Poincaré, Hilbert. Und der Sekretarius im Vorzimmer gibt den ehrfürchtig Harrenden und Sehnenden Ratschläge, wie sie sich den Großen nähern können, ohne sofort hinausgewiesen zu werden.
Aber das ist nicht allein der Zweck dieses Buches. Viele leiden unter dem von mir schon seinerzeit geschilderten „mathematischen Minderwertigkeitskomplex“ und kommen sich geistig ausgestoßen vor, weil insbesondere durch die neueste Physik Formen der Geometrie ihren Einzug in das öffentliche Wissenschaftsleben gefunden haben, zu denen von vornherein jeder Zugang versperrt schien.
Nun wäre es auch möglich, daß manche es begrüßen, Längstvergessenes aus der Schule aufzufrischen, dabei aber doch die Geometrie in ihrer Gesamtheit unter einem weiteren als dem schulmäßigen Gesichtswinkel (der in der Schule sicher notwendig und berechtigt ist) überblicken möchten.
Es kann aber - ich sage es wieder sehr ängstlich - auch Schüler geben, die neben dem Unterricht sich meines Buches als Kommentars oder Hilfsmittels bedienen wollen. Neuerlich muß ich anmerken, daß meine Darstellung niemals sich anmaßt, den berufenen Lehrer zu korrigieren, und daß bei allfälligen Widersprüchen stets und an jeder Stelle nicht ,mein Wort, sondern das Wort des Lehrers gilt.
Ich habe, um alle die von mir vorausgesehenen und als sicher erwarteten Bedürfnisse auf eine gemeinsame Plattform zu bringen, den Rahmen des Buches sehr weit gespannt. Deshalb habe ich von vornherein auf Überblick mehr Gewicht gelegt als auf Erörterung von Einzelheiten. So habe ich sowohl die `„neue“ oder „projektive“ Geometrie stark berücksichtigt, als auch die heute schon in Vergessenheit geratenden Proportionensätze der alten Griechen wieder heraufgeholt, ,wo es anging. Trotzdem wollte ich aber nicht mehr erreichen, als - in einer zweiten Variation des Leibniz-Wortes - überall nur ins Vorzimmer der Weisheit zu führen und all das besonders zu erläutern, was mir selbst als Schüler seinerzeit besondere Schwierigkeiten bereitet hatte oder wo mir damals jeder Zusammenhang unklar geblieben war. In dieser Beziehung fühle ich mich als einflüsternden Mitschüler all meiner Leser und Freunde.
Ich will nicht verschweigen, daß ein kleiner Unterschied in den Voraussetzungen besteht, die Anfänger für mein „Vom Einmaleins zum Integral“ im Verhältnis zu dieser „Geometrie für jedermann“ mitbringen müssen. Während es möglich war, die Arithmetik und Algebra gleichsam aus dem Nichts aufsteigen zu lassen, können gewisse elementare algebraische und arithmetische Vorkenntnisse, wenn der Umfang des Buches nicht allzusehr belastet werden sollte, hier nicht entbehrt werden. Sie gehen aber kaum über das hinaus, was ein Absolvent der unteren drei Klassen einer Mittelschule von der Arithmetik wissen muß, und Leser meines ersten Buches werden für diesen zweiten Teil überreichlich gewappnet sein. Geometrisch wird nichts vorausgesetzt, weshalb ich hoffe, daß der Untertitel von niemandem als Irreführung empfunden werden kann.
Die Geometrie hat seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einige grundstürzende Revolutionen erlebt wie vielleicht keine andere Wissenschaft. Daß ich an, diesen Ereignissen nicht -vorbeigehen durfte, erklärt sowohl den Titel des Buches als seine Anlage. Und ich wünschte, im Leser das Gefühl zu erwecken, daß wir noch durchaus nicht am Schlußpunkt der geometrischen Entwicklung angelangt sind, was für lebendige Menschen stets ein Trost und Ansporn zugleich ist. Ich dankte aus vollem Herzen schon am Beginn des Vorwortes. Dieser Dank trug allgemeinen Charakter und klang damit aus, daß ich mich durch den Widerhall der Öffentlichkeit noch stärker in die Gemeinschaft eingegliedert fühle als bisher. Nun habe ich aber im Zusammenhang mit dieser vorliegenden Arbeit noch mehrere angenehme Verpflichtungen zu speziellem Dank.
Wieder war es mein verehrter V Lehrer, der ausgezeichnete und universale Mathematiker Dr. Walther Neugebauer, der mich sowohl in einige mir noch unbekannte Kapitel der Geometrie einführte als auch mich bei manchem Handgriff durch rastloses Herbeischaffen der besten Quellenwerke unterstützte.
Aber auch mein Freund und Verleger Paul von Zsolnay und sein Mitarbeiter, mein Freund Direktor Felix Costa, haben im Verein mit der vortrefflich geführten Herstellungsabteilung des Verlages mit wahrer Begeisterung alle „Tücken des Objektes“ bekämpft, die das freundliche Gesicht eines so komplizierten Druckwerkes bedrohen.
Ein seltener Fall: Ich habe allen, ohne die kleinste Ausnahme, zu danken. Und ich hoffe nur, daß dieses Buch all jene, die mir vertrauen, nicht zu sehr enttäuschen wird.
Nun aber wollen wir munter an die Arbeit gehen und dem Sieg der bewiesenen Wahrheit größeren Kredit einräumen als dem Autor. Denn nur so werden wir echte Geometriker werden!


Wien, 20. September 1935.
EGMONT COLERUS

1[editar]

Erstes Kapitel
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Die ganze Welt ist Geometrie
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Herbert Lorenz, ein junger Mann von achtzehn Jahren, hatte eben die Reifeprüfung zu großer allseitiger Zufriedenheit bestanden. Die von den Eltern als Siegespreis ausgesetzte Reise war Wirklichkeit geworden, besser, sie näherte sich leider schon wieder der Unwirklichkeit, das heißt ihrem Ende. Aber Herbert Lorenz wäre kein Achtzehnjähriger gewesen, wenn nicht hinter der versinkenden Welt seiner Sommerreise schon ein neues glitzerndes, spannendes Reich aufgetaucht wäre: die Wahl des Studiums, das Beziehen der Universität, und all die anderen schönen Dinge, die mit Freiheit und Gebundenheit, mit Vorwärtssturm und Verantwortung zusammenhingen.
Es soll aber hier nicht der Roman des höchst sympathischen, jedoch durchaus nicht außergewöhnlichen Abiturienten Lorenz geschrieben werden. Gerade das Durchschnittliche, Schlichte, Allgemeinmenschliche an ihm erweckt für unseren Zweck unser Interesse.
Wir sagten schon, daß ihn nur mehr wenige Tage von der Heimkehr trennten. Er war aber ein tüchtiger junger Mann, nützte die ihm bleibenden schönen Ferialtage gründlich aus und hatte eben heute schon eine Bergpartie gemacht, von der er sich am durchsonnten Spätnachmittag auf der Terrasse seiner Quartiergeber bei einem kräftigen Vesperbrot erholte.
Auch über diese Quartiergeber muß zur Verdeutlichung der Gesamtlage ein wenig gesprochen werden. Es waren zwei ältere, kinderlose, behäbige Landleute von ausgezeichnetem Verstand. Eben deshalb, weil nämlich ihr ganzes bisheriges Leben, ihr Aufstieg zu Wohlhabenheit und ihre unerschütterliche Gesundheit den zwingenden Beweis dafür geliefert hatten, daß man auch jenseits der Wissenschaft gut wegkam, sahen sie alle wissenschaftlichen Bestrebungen ein wenig mitleidig an und hielten sie, subjektiv mit Recht, für Schrullen, für Störungen des Wohlbefindens, wenn nicht gar für Vermessenheit und Entfernung von der klaren Wahrheit und Einfachheit des Lebens.
Sinnvoller erschien ihnen die Tätigkeit des zweiten Gastes, der noch bei ihnen wohnte: eines Malers, der unbeschwert durch die Gegend strich und ihnen - das Sinnvollste - ein nettes Bild ihres Anwesens geschenkt hatte.
Bevor wir jedoch zu der sonderbaren Kontroverse vordringen, die uns in eigentümlicher Art direkt in unseren Gegenstand einführen wird, wollen wir uns ein Bild der ganzen Situation körperlich vor Augen stellen, wie sie an jenem Nachmittag in dem kleinen idyllischen Örtchen auf der Terrasse des Gasthofes bestand.
Also, unser Abiturient tat sich gerade an Schinken und Käse gütlich. Dabei erzählte er dem Wirt, daß er beim Anstieg einen Gemsbock gesehen habe. Der Wirt hielt es für glaubwürdig, da er selbst schon durch sein Fernrohr Gemsen auf den Wänden beobachtet hatte. Nur sei, sagte er, es noch niemals vorgekommen, daß sich Gemsen in die Nähe des gewöhnlichen Touristensteiges verirrt hätten. „Ich bin auch nicht den gewöhnlichen Steig gegangen“, erwiderte Lorenz. „Wo haben Sie dann die Gemsen gesehen ?“ prüfte die Frau des Wirtes. Lorenz blickte ein wenig unschlüssig zu den Bergen. Gut, er fand die Stelle ziemlich schnell. Wie aber sollte er sie den Wirtsleuten zeigen?
Die Hänge der Berge waren in der gerade herrschenden Beleuchtung ziemlich einförmig gefärbt, und Kennzeichen waren so spärlich, daß man beim besten Willen keine präzisen Marken angeben konnte. Das Zeigen mit dem Finger aber war viel zu grob. Lorenz erwiderte also:
„Einen Augenblick Geduld“, rückte seinen Sessel hin und her, bis er endlich das Gewünschte gefunden hatte. Er stand auf. „So, Herr Gevatter,“ sagte er lachend, „setzen Sie sich einmal, an meinen Platz. Und dann blicken Sie an der linken Kante des Kirchturmes vorbei. Und zwar dort, wo oben das Gesims läuft. Und nun verlängern Sie diese Linie, dann treffen Sie genau die Stelle, die ich meinte.“
„Werden wir gleich sehen“, brummte der Wirt, setzte sich auf den Sessel und betrachtete prüfend die ihm angegebene Richtung. Nach kurzer Zeit nickte er befriedigt. „Natürlich, ganz richtig“, sagte er. „Dort ist ja gerade der Wechsel. Dort sind immer Gemsen. Jetzt glaub ich Ihnen alles, junger Herr. Aber leicht ist dort der Anstieg nicht.“
„Sollte er auch nicht sein“, erwiderte Lorenz. Dann aber wollte er plötzlich seinen Triumph noch erweitern und fügte bei: „Ich habe Ihnen jetzt nicht nur die Gemsen bewiesen, 'Herr Gevatter, sondern auch den Wert der Geometrie, über die Sie so geringschätzig denken.“
„Was hat das mit Geometrie zu tun?“ Der Wirt stand unwillig auf.
„Mehr als Sie glauben“, beharrte der Abiturient.
„Versteh ich nicht. Wollen Sie nicht lieber noch ein Bier, junger Herr?“ Der Wirt versuchte abzulenken.
„Auch, Herr Gevatter auch. Aber nur unter der Bedingung, daß Sie auch für sich eines bringen und sich zu .mir setzen. Wir werden die schöne. Gegend betrachten, nichts als die Gegend und werden untersuchen, wieviel Geometrie überall steckt. Der Maler wird sich auch zu uns setzen. Und ich zahle für jeden Gegenstand ein Glas Bier, in dem nichts von Geometrie enthalten ist.“
„Da könnens nimmer nach Haus fahren, junger Herr. Und ich verkauf mein ganzes Bier“, lachte der Wirt auf und ging die Gläser holen.
In den nächsten Stunden entwickelte sich ein beängstigendes Gespräch, von dem wir nur eine kleine Anzahl von Proben geben wollen, da sonst der Leser in denselben fast psychopathischen Zustand fallen könnte, in dem sich schließlich unsere Tischgesellschaft befand. Denn die blühende, lachende Welt hatte sich in dieser Zeit in ein Gewirre von Linien, Kurven, Größen, Abmessungen, Winkeln, Proportionen und Lehrsätzen verwandelt. Und der Abiturient Lorenz fand wenig Gelegenheit, Bier zu zahlen, obgleich er es zur Belebung der Stimmung ab und zu gerne tat, auch wenn er noch etwas hätte sagen können.
Wir wollen aber jetzt, wie angekündigt, aufzählen.
Da war zuerst das Bier selbst. Was heißt ein Liter, ein halbes Liter, ein Hektoliter? Das Liter ist ein Raummaß. .Und zwar die Flüssigkeitsmenge oder die Kornmenge oder überhaupt irgendeine Menge, die einen Würfel erfüllt, dessen Kanten je einen Dezimeter lang sind. Also je zehn Zentimeter. Was aber ist wieder ein Zentimeter? Wohl nichts anderes als der hunderte Teil des Meters. Was aber ist der Meter? Der Meter ist der zehnmillionste Teil des Erdmeridianquadranten. Was ist dieser Erdmeridianquadrant? Nun, etwas höchst Bekanntes. Auf jedem Globus gibt es Linien, die am Nordpol und am Südpol einander schneiden, etwa wie die Begrenzungen von Orangenspalten. Diese „Größtkreise“ auf der Kugel heißen Meridiane. Und ein Viertel davon ist der Meridianquadrant. Also etwa die Linie vom Nordpol bis zur Stadt Singapur an der Südspitze Hinterindiens, die ungefähr am Äquator liegt. Der Meter ist also ein sogenanntes natürliches Maß, da er aus der Natur genommen ist. Und das Liter ist auch ein natürliches Maß, da es gleichsam mit dem Meter gekoppelt oder fest verbunden ist.
Und erst die Bierfässer! Hu, hier beginnt die Geometrie besonders gefährlich zu werden, lieber Herr Gevatter! Im Jahre 1624 war in Oberösterreich eine besonders reiche Weinernte. Man fürchtete, die Fässer konnten nicht langen. Zumindest wollte man Fässer haben, die nicht unnötig teuer kämen. Es ist nämlich durchaus nicht so, daß gleichgroße, das heißt, inhaltsgleiche Fässer gleich teuer sein müssen. Man könnte sich ein Hektoliterfaß ungeheuer dünn und lang vorstellen wie eine Röhre. Oder wieder mit riesigem Durchmesser und geringer Dicke wie ein Rad oder wie eine Scheibe. Dann kommt es aber auch noch auf die Bauchung an. Und in jedem Fall braucht man ein anderes Quantum Holz. Und Faßholz ist sehr teuer, da es Jahre lang trocknen muß, und Faßbinderarbeit ist auch nicht die billigste. Im Gegenteil. Sie gehört zu den höchst entlohnten Hand arbeiten. Die oberösterreichischen Weinbauern wußten sich also im Jahre 1624 keinen Rat. Es lebte aber damals der große Mathematiker und Astronom Johannes Kepler in Linz. Und der nahm sich der Sache an und konnte die Weinbauern insofern trösten, als er mathematisch bewies, daß die übliche Faßform ohnedies nur wenig von der denkbar günstigsten abwich. Dieses Problem der. Weinfässer ,gehört aber schon zur höchsten Geometrie und wir können jetzt nicht einmal andeutungsweise näher darüber sprechen.
Doch lassen wir den verderblichen Alkohol. Wandern wir mit den- Augen zum Kirchturm. Er ist so einfach und schmucklos und steht, wie die Leute sagen, schon gut ein Jahrtausend. Ob das wahr ist, können wir nicht prüfen. Uns interessiert auch jetzt nur seine Form. Er ist unten ebenso breit wie oben. Man sagt, seine Kanten liefen einander parallel. Mit diesem Begriff wollen wir uns erst gar nicht einlassen. Er ist seit zweitausend Jahren das wahre Kreuz der Geometrie. Wir werden im Verlauf unserer gemeinsamen Bemühungen noch genügend Kostproben für das Problem des Parallelen erhalten. Wir begnügen uns mit einer viel schlichteren Frage: Wie haben die Werkmeister es zustande gebracht, daß die Kanten des Turmes parallel zueinander laufen? Jedes Kind sagt, daß der Maurer dies mit dem Senkblei oder Lot erzielt. Wohin aber weist das Lot? Auch das kann jeder beantworten: Das Senkblei stellt sich so ein, daß seine Spitze zum Erdmittelpunkt zeigt. Dann, o Schrecken, haben wir sofort ein neues geometrisches Problem, nämlich die Tatsache, daß die Kanten des Kirchturmes einander nicht. genau parallel sind. Der Kirchturm, der nach dem Lot erbaut ist, muß an der Grundfläche schmäler sein als oben; Denn er ist der Stutz einer Pyramide, deren Scheitelpunkt mit dem Erdmittelpunkt zusammenfällt. Natürlich merkt man die Abweichung von der Parallelität in der Praxis nicht. Denn die Höhe des Kirchturmes,(etwa 50 Meter) ist im Verhältnis zum Erdhalbmesser (nahezu 6,400.000 Meter) verschwindend klein. Aber auch dieser Umstand geht vorläufig .weit über unsere Fähigkeiten. Denn es handelt sich dabei um das sogenannte „unendlich schmale Dreieck“, das wir erst viel später kennenlernen werden. Dazu behauptet, um die Verwirrung voll zu machen, der Maler, daß, selbst unter der Voraussetzung vollständig paralleler Kanten des Kirchturmes, noch kein Mensch auf der Welt diesen Parallelismus wirklich gesehen habe. Stehe man unten am Fuß des Kirchturmes und blicke hinauf, dann erscheine der Turm oben schmäler. Betrachte man ihn von oben, etwa aus einem Flugzeug, dann sei er oben breiter als unten. Versetze man sich aber außerhalb in die halbe Höhe des Turmes, dann sei er gar wie eine Tonne geformt, was aber etwas übertrieben ausgedrückt sei. Es solle nur heißen, daß er für das betrachtende Auge nach oben und unten schlanker werde. Wie also ist der Kirchturm „wirklich“? Was heißt überhaupt „wirklich“ in diesem Zusammenhang? Ist das, was man sieht, „unwirklich“?
Lassen wir den Kirchturm. Ruhen wir uns von den Problemen bei der Kette der fernen Berge aus. Dort in der Mitte trägt die Spitze des einen Berges ein Kreuz. Es sei kein Kreuz, behauptet unser Wirt, sondern eine dreieckige „Holzkraxe”. Holen wir also das Aussichtsfernrohr. Schade, denkt der Abiturient Lorenz, daß er_nicht mit dem Wirt ausgemacht hatte, daß dieser bei Jeder geometrischen Angelegenheit ein Glas Bier gratis ausschenken müßte. Jetzt wäre es zugleich eine ganze Runde. Denn die „Holzkraxe“ ist eine sogenannte Triangulierungspyramide. Und wir stehen sofort vor drei Problemen. Zuerst das Triangulierungszeichen selbst. Triangel (triangulum) heißt zu deutsch Dreieck. Denn die Vorsilbe „Tri“ bedeutet drei und „Angulum“ heißt Winkel oder Ecke. Und diese Zeichen werden auf Bergspitzen und anderen markanten Stellen aufgerichtet, um mit ihrer Hilfe die Landkarten zu entwerfen. Wie das geschieht, muß für uns noch Geheimnis bleiben. Jedenfalls spielen dabei Dreiecke, wie der Name sagt, eine große Rolle. Aber noch etwas interessiert uns außer der Flächentreue unserer Landkarte, die schon auf dem Wirtshaustisch liegt. Gut, da haben wir unser Triangulierungszeichen, unsere „Holzkraxe“ als niedliches Dreieckchen auf der Bergspitze eingezeichnet. Es ist jedoch noch etwas Zweites eingezeichnet. Nämlich die Angabe, wie hoch der Berg ist. Es steht 1732 dabei. Das sind 1732 Meter über dem Meeresspiegel, wie jeder weiß. Wie nun in aller Welt mißt man diese Höhe? „Geometrisch“, grinst satanisch der Abiturient. Er begnügt sich aber nicht mit der einen Bosheit. Er fügt sogleich eine zweite hinzu: „Wir hätten ohne das Fernrohr gar nicht feststellen können, ob wir ein Kreuz, eine Wettertanne oder ein Triangulierungszeichen vor uns haben. Was aber ist das Fernrohr?“ „Wahrscheinlich ein Instrument“, meint der Wirt unsicher. „Gewiß“, antwortet der Abiturient. „Es ist ein Instrument. Aber im tiefsten ist es eine durch und durch geometrische Angelegenheit. Ohne Geometrie keine Optik, ohne Optik kein Fernrohr.“
Die Sonne ist untergegangen. Wie zum Hohn auf die Überwissenschaftlichkeit unseres Abiturienten spielt die Natur einen Trumpf aus. In violetten Tönen beginnen die Gipfel zu glühen. Man erfreut sich des herrlichen Anblickes. Bis endlich, diesmal allerdings etwas schüchtern, der Abiturient wieder mit der gotteslästerlichen Geometrie beginnt. Denn ohne die Gesetze der Spiegelung, die in letzter Linie nichts sind als geometrische Gesetze, läßt es sich nicht erklären, daß die Sonne, nach ihrem Untergang indirekt das sogenannte Alpenglühen auf den Bergspitzen erzeugt.
Wir wollen aber die geometrische Folter nicht zu weit treiben. Nicht weiter, als es vorläufig für unsere Absicht genügt. Und wollen daher nur mehr andeuten: Unten über eine Brücke rattert ein Zug. Er erschien zuerst winzig wie ein schwarzes Schlänglein, wurde größer als er näherkam. Die Lokomotive pfiff, als sie vor der Brücke angelangt war. Der Pfiff veränderte seine Höhe, als der Zug auf uns zukam. Schon diese wenigen Tatsachen bedeuten ein geometrisches Wespennest, wobei gar nicht von der Fülle der Geometrie gesprochen werden soll, die notwendig ist, eine Lokomotive überhaupt zu konstruieren. Ebensowenig ist eine Schienenspur und eine Eisenbahnbrücke ohne Geometrie möglich. Die scheinbar kleinere Geschwindigkeit des weiter entfernten Zuges ist ein Problem der sogenannten Winkelgeschwindigkeit, die Veränderung der Pfiffhöhe betrifft das Dopplersche Prinzip, das zuletzt auf geometrische Sätze hinausläuft. Und ob auf den Waggons Kohle, Holz, Kartoffeln oder Kalk geladen ist, ob der Zug Lebendvieh oder Kanonenrohre transportiert, ob er Personen befördert, ob er über Weichen rattert, Steigungen nimmt, ob sich Bremsklötze anpressen und Bremsspindeln drehen, ob Wildbäche verbaut werden oder Böschungen von Dämmen richtig angelegt werden sollen, ob Semaphore die Verkehrssicherheit gewährleisten und in der Bahndirektion die sogenannten graphischen Fahrpläne gezeichnet werden: der Geometrie werden wir in keiner Phase, in keinem Augenblick. entgehen können.
Es wird Nacht werden. Mond und Sterne werden über unserer Landschaft schimmern. Und es wird damit das größte, das unbedingteste Reich der Geometrie vor uns auftauchen. Das Reich, das uns wieder auf geometrische Art unsere Zeitmaße, unseren Kalender, unsere geschichtlichen Epochen schenkt. Und wenn im Osten die Sonne aufsteigen wird und wir über den Seespiegel blicken werden, wird sich uns eine neue geometrische Welt offenbaren. Der gekrümmte Horizont der Wasserfläche, die eigentümlichen Verkürzungen, das Emporkommen von Mastspitzen und Schloten über die Himmelslinie wird uns Gelegenheit zu Überlegungen über die Geometrie auf der Kugel bieten und wir werden sehr genau prüfen müssen, wie wir steuern sollen, um ferne Lande auf dem kürzesten Weg zu erreichen. Denn „Gerade“, wie wir sie verwendeten, um die Stelle des Gems-Wechsels anzuvisieren, gibt es auf der Kugel nicht.
Aber darüber hinaus zeigen uns Grenzen und Gemarkungen von Feldern, Hausdächer, Brunnen, Gefäße, Möbelstücke, die Terrasse mit ihren Fließen, die Bienenwaben, die Kristalle, die Maße und Gewichte, kurz, fast alles, was wir ins Auge fassen, Spuren und Einflüsse der Geometrie. Und das Auge selbst ist gleichsam ein Zentrum der Geometrie.
Wir fühlen unseren braven Wirtsleuten nach, daß sie verwirrt sind. Wir sind selbst verwirrt und wollen es sein, um den Dingen desto sicherer auf den Grund zu kommen. Denn es scheint uns, als ob unser Abiturient in seinem Übereifer die Welt auf den Kopf gestellt und allerlei gar nicht zusammengehörige Dinge miteinander in Beziehung. gebracht habe, um recht zu behalten und ummöglichst wenig Bier zu zahlen. Gleich danach aber scheint es uns wieder, als ob er doch nicht so unrecht gehabt hätte und die ganze Welt tatsächlich nichts sei als verkappte Geometrie, wobei es noch besonders auffiel, daß nicht nur die Gegenstände, die wir selbst erzeugen, mit der Geometrie zu tun haben, sondern auch die Dinge der Natur wie der Seespiegel, das Alpenglühen und die Gestirne.
Wir wollen aber vorläufig noch nicht zu tief philosophieren, sondern die Ereignisse des folgenden Vormittags auf unserer Gasthausterrasse schildern, die uns neues Material zur Erforschung und zum Nachdenken geben werden. Dann erst wollen wir uns schlüssig werden, in welcher Art wir den verschlungenen Knoten, den wir geschürzt haben, in möglichst vorteilhafter Art für uns entwirren, um uns ein wenigstens vorläufiges Urteil über das Wesen der Geometrie bilden zu können. Sind wir einmal so weit, dann werden wir uns vorsichtig, Schritt vor Schritt, die Kenntnisse anzueignen suchen, die uns in den Stand setzen, alle Fragen, die uns bisher beunruhigen, auch wirklich zureichend zu beantworten.


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