Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 271c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


25. „Es wird nützlich sein, von nun an zu schreiben...“[editar]

Ratternd und schwankend fuhr der schwerbepackte, bestaubte Postwagen über das Pflaster der Hafenstraße von Calais und hielt am Beginn der Mole.
Es war ein früher, heller Herbstmorgen des Jahres 1676, ein Morgen, an dem unter dem Wehen einer leichten Brise lange Wogenzüge mit weißen Gischtkuppen von Süden nach Norden rollten. Ein Morgen, der so sichtig war, daß man wie einen geisterhaften Dunststreifen die weißen Kreideklippen Englands weit draußen über der tiefen Blaue des Kanals wahrnahm.
Nur wenige Personen entstiegen dem Wagen. Unter ihnen Leibniz, der sich enger in seinen Mantel hüllte, da ihm die frische Salzluft ein Frösteln über die Glieder jagte. Eilfertig kletterte sein Diener vom Kutschbock und machte sich daran, das immerhin große und schwere Gepäck loszuschnüren.
„Sie werden heute eine schnelle und gute Überfahrt haben“, sprach ein herumlungernder Matrose Leibniz an. „Vorausgesetzt, daß der Kapitän endlich mit dem Verladen der Weinfässer fertig wird.“ Und der Matrose zeigte mit dem Daumen über den Rücken gegen den Platz, wo das kleine Segelschiff vertäut lag und wo ein hastiges Umherwimmeln von Schiffern und das Gepolter und Gerolle von Fässern bemerkbar war.
„Ich überquere nicht zum erstenmal den Kanal“, erwiderte Leibniz. „Er sieht heute wirklich liebenswürdiger aus als sonst.“ Und er wandte sich mit freundlichem Kopfnicken ab.
Denn sein Frösteln war durchaus nicht bloß der Ausdruck körperlichen Kältegefühls. Eine Kälte der Seele hatte ihn eben geschüttelt, als er sich beim Anblick des Schiffes bewußt ward, daß er Frankreich vielleicht für immer den Rücken kehrte.Nicht jenem Frankreich, das mit dem großen Kurfürsten, mit dem deutschen Kaiser, mit Spanien im Kriege lag. Das die Pfalz verheerte und brandschatzte, das den Elsaß überrannte. Ein andres Frankreich war ihm zur Heimat geworden, so sehr er sich gegen dieses Gefühl sträubte. Es wahr der Nährboden, die Luft des Aufwärtsstrebens und die Atmosphäre geistigen Rausches. Und es war der Kreis von Männern, die er eben verlassen hatte. Männer jenseits von Nationen und Krieg, einzig hingegeben dem ewigen Reich des Geistes.
Worin lag dieser Zauber Frankreichs, daß es zugleich einen Arnaud, einen Huygens, einen Tschirnhaus, einen Bossuet, einen Marquis de l”Hospital und ihn selbst umfassen konnte? Lag das nur an der vornehmen, höfischen Form oder am Streben Colberts, auch Fremdnationales an den Triumphwagen des allerschristlichsten Königs zu spannen? Oder lag es doch tiefer? Vielleicht an der Sprache dieses Landes, in der Leibniz, wie er sich erschrocken eingestand, nun schon dachte, wenn er in subtilen Fragen nach Ausdruck rang? An jener Sprache, die ebenso bestimmt als schmiegsam, ebenso taktvoll als enthusiastisch war?
Gut! Diesen Teil, diese Morgengabe Frankreichs würde er nicht verlieren. Leider nicht verlieren, wenn er jetzt an den Hof Hannovers oder an irgendeinen Hof kam. Wohin aber sollte das in Deutschland führen? Wohin? War diese Sprachherrschaft nicht allein schon ein Sinnbild politischer Herrschaft? Und wie sollte Deutschland, selbst wenn es große Geister hervorbrachte, beweisen, was es leistete? Wenn die Welt der Gelehrten, jene überstaatliche Republik der Geister, nur das starre Latein oder das melodische Französisch verstand?
Doch nein. Es würde anders kommen. Mußte anders kommen. Vier Jahre in der Fremde hattenihn belehrt, hatten seinen Gesichtskreis ins Kosmische erweitert. Und er wußte zudem kaum, was in diesen vier Jahren in Deutschland vorgegangen war.
Er würde, das gelobte er sich an dieser Stelle, als Heimgekehrter die richtige Zeit wahrnehmen, um auch seiner Muttersprache Geltung zu verschaffen. Nicht morgen, nicht übermorgen. Aber dann mit doppelter Wucht und Stoßkraft, wenn die günstige Stunde schlug.
Und inzwischen sollte eine andre Sprache, eine neue deutsche allgemeingültige Sprache die Erde erobern. Eine Sprache, die niemand anzweifeln konnte. Die Sprache seines unfehlbaren Algorithmus, seiner lullischen Zauberkunst.
Und während er halb unbewußt über die Mole auf und nieder wandelte, während die Sonne höher stieg und ein grelles Glitzern über Meer und Schiffe legte, während alle Umrisse farbiger und deutlicher hervortraten, fröstelte es ihn zum drittenmal. Jetzt aber im Schauer heller Begeisterung.
Nicht als Bettler würde er heimkehren, nein als Vollender.
Und es stand, schon wie fernste Vergangenheit, jener 29. Oktober 1675 vor ihm, jener magische Tag, von dem er heute kaum durch die Spanne eines jahres getrennt war. Alles sah er noch gegenwärtig. Sah das kleine Zimmer, das er nach der Abreise Schönborns wieder hatte beziehen müssen, sah den unscheinbaren Zettel, auf den er die folgenschwere Notiz in rasender Hast hingeworfen hatte, fürchtend, sie könne wieder in jene dunklen mathematischen Abgründe und Zwischenreiche entschlüpfen, aus denen sie sich eben zum Tageslicht erhoben hatte.
„Es wird nützlich sein“, hatte sie ungefähr gelautet, „statt der Gesamtheiten des Cavalieri, also statt ,Summe aller y‘ von nun an zu schreiben. Hier zeigt sich endlich die neue Gattung des Calcüls, die neue Rechenoperation, die der Addition und Multiplikation entspricht. Ist dagegen gegeben, so bietet sich sogleich das zweite auflösende Calcül, das aus wieder y macht. Wie nämlich das Zeichen die Dimension vermehrt, so vermindert sie das d. Das Zeichen aber bedeutet eine Summe, d eine Differenz.“
Aus dieser kleinen Notiz, aus diesem wahrscheinlich für alle, außer für Leibniz selbst noch unverständlichen Zauberspruch, war riesengroß und traumschnell, mit unfehlbarer Sicherheit, im Laufe des letzten Jahres eine neue Welt von Formen herausgeschossen. Es war der erste dünne Wasserstrahl gewesen, der durch einen Maulwurfsgang den scheinbar unüberwindlichen Damm des Nichtverstehens passiert hatte. Das „anonyme Problem der Mathematik“ hatte seinen Namen erhalten.
Und jener vorgeahnte Quotient der winzigen Katheten, jenes dy gebrochen durch dx, jener Zauberschlüssel öffnete die Türen, während sie das magische , das Integral, wie es viele Jahrzehnte später heißen sollte, wieder schloß, nicht aber, ohne auch in seinem Inneren zauberhafte Arbeit geleistet zu haben.
Und der Algorithmus raste weiter, raste von Erfolg zu Erfolg. Genug, wenn die Gleichung einer Kurve bekannt war: dy durch dx gab die Tangente an jeder Stelle, gab die Richtung, war das geöffnete Geheimnis der Kurve, war ihr Rhythmus, ihr Gesetz. Und dy durch dx verriet alles. Verriet, wo die Kurve am höchsten, am tiefsten Punkt angelangt war und gab es so an die Hand, das Maximum und das Minimum eines Vorganges festzustellen, gestattete, vorauszusagen, wie es ein Klempner anstellen solle, möglichst viel Blechgefäße gewissen Inhaltes aus einer gegebenen Blechplatte zu erzeugen, dy und dx aber leisteten auch die Rektifikation. Verbanden sich als nach dem pythagoräischen Lehrsatz zu einer Perlenschnur von Kurvenpunkten, wenn man die Wurzel unter das Integralzeichen stellte.
Und erst dieses Integral selbst! Das Rätsel der Quadraturen und Kubaturen, der Flachen- und Inhaltsberechnung krummlinig begrenzter Gebilde, war gelöst. Wieder brauchte man bloß die Gleichung der Kurven, die Gleichung der krummen Flächen. Und die wahre Denk- und Rechenmaschine des Algorithmus rasselte unhörbar mit ihrem infinitesimalen Räderwerk in den Abgründen des Unbewußten. Differentiale schoben sich an Differentiale, multiplizierten, potenzierten, logarithmierten : und heraus fiel schließlich ein klarer, einfacher Ausdruck für den Flächeninhalt, für die Raumgröße. Und das Ergebnis stimmte für das Dreieck und die Kugel ebenso wie für Gebilde, an die sich noch nie ein Mathematiker herangewagt hatte. Für Gebilde, begrenzt von den abstrusesten Kurven und Krummflächen.
Wohin aber noch der Algorithmus trieb, konnte kein Mensch auch nur ahnen. Denn mitten in den Räuschen, die sein unfehlbares Wirken erzeugte, hatte es oft ein furchtbares Erwachen gegeben. Unmöglich war es bisher, allgemeine Gesetze für die Integration verwickelterer Ausdrücke zu finden. Es war eine Kunst, eine Eingebung, ein Taschenspielerstück, wenn man die Lösung auf Umwegen fand. Und es würde vielleicht ewig so bleiben. Aber auch die sonst so sichere, sonst fast handwerkliche Differentialberechnung, das Aufsuchen des Wertes jenes dy gebrochen durch dx, versagte an manchen Stellen, trotzte allen Bemühungen.
Und gleichwohl standen wolkenhohe Aspekte hinter all diesen noch nicht ganz erschlossenen Gebieten. Aspekte, die die Physik und damit die Kräfte der Natur in die Hand des Menschen spielten; Möglichkeiten, die bis zu den Sternen reichten, die neue Werkzeuge, neue Maschinen aus dem Nichts hervorzauberten; Sicherheiten, die es erlaubten, Brücken und Gebäude aufzuführen, an die man sich nie gewagt hätte, weil man sie nicht vorher hatte im Geiste prüfen können…
Leibniz hatte schon längere Zeit Worte gehört, die ihn angingen, die er jedoch im Tosen seines Gedankenkataraktes, dazu noch geblendet von Formen und Bildern ferner Zukunft, nicht erfassen konnte. Erst das Gefühl, es berühre ihn eine Marmorhand an der Schulter, schreckte ihn aus seinen Visionen auf.
Da verstand er auch den Satz, den sein Diener sprach:
„Es ist höchste Zeit, das Schiff zu besteigen, Euer Gnaden. Die Taue werden schon gelöst.“
„Die Taue werden gelöst“, wiederholte Leibniz tonlos vor sich hin. Dann straffte er seine Gestalt und schritt lächelnd über den schwankenden Steg. Mit dem Bewußtsein, Frankreich, ohne dem Gastgeber etwas geraubt zu haben, das Kostbarste in der Welt zu entführen: Das Wissen um den geheimnisvollen Algorithmus der höheren Mathematik.


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