Ir al contenido

Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 270c

De Wikilibros, la colección de libros de texto de contenido libre.
índice
Lección 269c ← Lección 270c → Lección 271c


Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


24. Ein Feind und ein Freund fürs Leben

[editar]
An einem Augustnachmittag des folgenden Jahres hielt die Kalesche des Herzogs von Chevreuse, einige Meilen außerhalb von Paris, am Fuße eines Hügels vor einem prächtigen Eingangstor aus kunstvoller Schmiedearbeit. Der Wagen hatte sich den Weg bis zum Tor nicht leicht gebahnt, da schon viele andre Karossen mit reichem Wappenschmuck in buntem Durcheinander umherstanden, die ihre Herren bereits in den Park des Colbertschen Landsitzes entlassen hatten.
Von hier sah man durch die Üppigkeit der gestutzten Alleen nur einen kleinen Ausschnitt des Schlosses etwa in halber Höhe des Hügels. Ganz oben aber auf der Kuppe ragte ein zierliches, beinahe durchscheinendes Tempelchen mit schlanken Säulen.
Der Herzog von Chevreuse, der Schwiegersohn des Ministers Colbert, ließ seinen Fahrgenossen, dem Grafen von Tschirnhaus und Leibniz, in höflichster Art den Vortritt beim Aussteigen. Als er selbst auf dem Boden stand und eilfertige Lakaien ein kleineres Türchen neben dem Schmiedegitter öffneten, zeigte er mit der Hand gegen den Hügel hinauf und sagte:
„Sie werden heute zufrieden sein, meine Herren. Mit der Umgebung, der Landschaft und hoffentlich auch mit den Gästen. Auch Sie, Graf Tschirnhaus. Wir haben den griesgrämigen Baron Laroche und seine Gattin nicht einzuladen vergessen.“ Er lächelte anzüglich.
„Aber Hoheit!“ wehrte Tschirnhaus verlegen ab. „Warum bringen Sie mich so ostentativ mit der Baronin in Zusammenhang?“
Die drei gingen schon in leicht ansteigender Serpentine auf dem Kiesweg durch den Park.
„Nun, etwas Unaufrichtigeres hätten Sie schwer antworten können“, lachte der Herzog heraus. „Warum übrigens verleugnen Sie die reizende Baronin? Ihr beide macht einander nur Ehre. Und uns liefert Ihr vielen Gesprächsstoff. Aber jetzt nicht so bös dreinsehen, Freund Tschirnhaus!“
„Für mich haben Sie keine besondere Attraktion, Hoheit?“ fragte Leibniz dazwischen, um den Scherzen des Herzogs ein Ende zu machen.
„O ja, auch für Sie, Herr Leibniz. Ich sage aber nicht, wen wir da auswählten. Sie sollen den Mann selbst herausfinden. Es ist nämlich merkwürdigerweise ein Mann und dazu noch ein Gelehrter. Jetzt sind Sie wohl enttäuscht, Herr Leibniz? Die Damen von Paris beschweren sich ohnedies schon, daß Sie ihnen geradezu nachstellen.“
„Nun, ich habe mit Leibniz schon sonderbare Dinge erlebt. Einmal im Tanzhaus. Er ist uns wahrscheinlich bloß an Geheimhaltung seiner Abenteuer überlegen“, versuchte Tschirnhaus Leibniz zu verteidigen.
„Ach so?“ Der Herzog schüttelte den Kopf. „Das ist allerdings bisher unsrem Überwachungsdienst entgangen. Sehr, sehr charmant! Ich werde es dienstlich meinem Schwiegervater melden.“
„Tun Sie es ruhig“, lächelte Leibniz. „Ich glaube meine Liebesabenteuer werden die produktiven Kräfte Frankreichs nicht schwächen.“
Der Herzog machte ein posiert erstauntes Gesicht.
„Also frivole Scherze liegen Ihnen auch, Herr Leibniz ? Jetzt sind wir einander noch um ein Stück näher gekommen. Man kann wirklich nicht vielseitig genug sein.“
Leibniz hatte keine Gelegenheit mehr zu erwidern. Denn es bot sich ihnen ein zauberhaft buntes und schönes Bild. Auf einer weiten, von Bosquetten und gestutzten Bäumen umsäumten Terrasse, auf die sie eben hinausgetreten waren, standen, rings um einen Monumental-Springbrunnen, zahlreiche mit Tafelsilber und Kristallgläsern überladene Tische, die in der Sonne funkelten. Und an den Tischen saß in prächtigster Staatskleidung fast alles, was in Paris Rang und Ansehen hatte. Adel, Geistlichkeit, Gelehrte. Und Damen, aus deren zarten gepuderten Antlitzen begehrliche und hochmütige Augen blitzten.
„Mein Schwiegervater hat mich ausdrücklich beauftragt, die Herren an seinen Tisch zu geleiten“, sagte der Herzog nunmehr förmlich und äußerst liebenswürdig. „Wir wollen Sie beide gleichsam vor aller Welt für unser Land in Anspruch nehmen.“
Leibniz stutzte einen Augenblick. Was hieß das? Bloß eine Höflichkeitsphrase? Oder gar hohe Politik? Ganz Deutschland fast stand im Krieg gegen Frankreich. Merkwürdige Dinge geschahen auf dieser Erde. Draußen jenseits des Rheins, wurden furchtbare Schlachten geschlagen, Länder verheert und gebrandschatzt. Und hier geleitete man zwei Deutsche an den Ehrentisch. Wollte man dokumentieren, daß der Geist jenseits des Krieges stand? Oder fürchtete man diesen Geist so sehr, daß man um ihn buhlte? Als das Einzige, wohin selbst die Macht eines Sonnenkönigs nicht reichte?
Wie dem nun auch war, hatte Leibniz die ganze schreckliche Zeit hindurch, die Europa politisch zerklüftete, die Erfahrung gemacht, daß man hier in Paris imstande war, zumindest äußerlich die Form zu wahren. Und daß man es ängstlich vermied, ihm gegenüber den Takt zu verletzen. Tschirnhaus allerdings hatte schon einige Male weniger gut abgeschnitten. Das konnte aber auch an seiner eigenen draufgängerischen Art liegen.
Noch unbedenklicher erschien Leibniz der „Ehrentisch“, als sie knapp vor ihm standen und die Begrüßung begann. Es saßen da außer Colbert noch der Außenminister Arnaud de Pomponne, Huygens von Züllichen, der seit kurzem die königliche Akademie der Wissenschaften als Präsident leitete, der Theologe Arnaud und noch einige andre Würdenträger und Gelehrte, die Leibniz fast sämtlich bekannt waren. Auch gab es zahlreiche Damen, darunter die sehr kokette Baronin Laroche, die den Grafen Tschirnhaus mit unschuldsvoll selbstverständlicher Miene aufforderte, sich neben sie zu setzen, was den Herzog von Chevreuse sogleich zu einem anzüglichen Lächeln veranlaßte.
Leibniz hatte den Landsitz Colberts noch nie betreten. Deshalb gab er sich zuerst dem Anblick hin, den das leuchtende Barockschloß oberhalb der Terrasse bot. Er konnte um so ungestörter umhersehen, als die ganze Tafel, insbesondere sein Nachbar, der jüngere Colbert, genannt Croissy, eben in ein sehr lebhaftes Gespräch über den Ausbau der französischen Straßen und Häfen verwickelt war.
An einem Nebentisch, nicht weit von ihnen, dröhnte mehrmals hintereinander höchst ungezwungenes Gelächter. Den Mittelpunkt dieses Tisches bildete ein dicker, jovialer Herr in der Tracht eines Gelehrten, dessen Gesicht von Schalkhaftigkeit zuckte und der sich ein übers andremal klatschend auf den Schenkel schlug.
Man verstand jedes Wort vom Nebentisch, so laut wurde die Unterhaltung geführt.
„Das ist zuerst ein alchimistisches Experiment“, dröhnte der Gelehrte. Er hatte sich durch einen Diener eine brennende Kerze reichen lassen, hatte an ihr ein dünnes Hölzchen entzündet und den brennenden Span dann beherzt in den Mund gesteckt. Nachdem das Feuerchen in seinem Rachen verschwunden war, schnitt er mit fest geschlossenen Lippen verzweifelte Grimassen, als ob es noch in seinem Inneren weiterflammte.
„Hören Sie auf! Um Gottes Willen!“ sagte geängstigt eine junge Dame und legte ihre Hand auf seinen Arm. Die anderen jedoch, die um den Tisch saßen, lachten schallend auf.
Der Gelehrte zog das erloschene Hölzchen seelenruhig aus dem Mund und warf es achtlos auf den Boden.
„Das ist eben die Alchimie“, meinte er dann in übertrieben lehrhaftem und ernstem Ton. „Wie soll ein Feuer brennen, von dem ich alle Luft absperre? Die Lippen muß man schnell und vollständig schließen. In diesem Augenblick erlischt es.“ Und er machte mit der Hand eine weitausholende Gebärde über den Tisch, als ob er alle Gläser und Karaffen herunterstreifen wollte.
Im nächsten Augenblick ertönte auch schon ein furchtbares Splittern und Klirren auf dem Boden. Selbst am Ehrentisch stockte das Gespräch und man sah hinüber, während einige Diener entsetzt herbeistürzten.
Auf dem Kies der Terrasse aber lagen, in der Sonne glitzernd, nur eine große Anzahl von Metallblättchen aus Bronze und Stahl.
„Ach, ich wollte ja nur beweisen, daß der Klang noch nichts über das Material aussagt“, schrie der Gelehrte mit larmoyanter Stimme in die Stille hinein. „Ich denke, der große Huygens befaßte sich eben mit der Lehre von den Schallwellen.“
Leibniz konnte sich das Benehmen des ihm gänzlich unbekannten Mannes nicht deuten. Umso weniger, als man selbst den letzten, sicher nicht geschmackvollen Scherz für gar nichts Absonderliches anzusehen schien, da nach kurzem Gelächter eine Pause in den „Scherzen“ eintrat, die sogleich das normale Gesellschaftsbild wiederherstellte.
Eben wollte sich Leibniz bei Herrn Colbert-Croissy nach der Bedeutung dieser Vorgänge erkundigen, als die Stimme des Gelehrten wieder ertönte.
„Die Physik ist unerschöpflich“, grollte er düster. „Die Schleichwege der Natur sind rätselhaft. Wer auch sollte denken, daß ein Glas Wein nicht auf den Boden ausfließt, wenn man die Öffnung nach unten hält?“ Und er hatte schon ein Glas Rotwein gefaßt und schwang es mit einem Kunstgriff so schnell im Kreis, daß tatsächlich kein Tropfen vergossen wurde, obgleich im Kreisen die Öffnung für einen Augenblick sichtbar nach unten wies. Dies alles aber noch oberhalb des Kleides seiner Nachbarin, die in panischem Schrecken zurückfuhr.
„Sie können es auch, können es vortrefflich, jeder kann es“, rief er einem Lakai zu, der verzückt zusah und faßte ihn am Rock. Dann erhob er sich halb, gab dem Lakai ein andres Glas Wein in die Hand und flüsterte ihm einige Worte zu.
Der Lakai zögerte einen Augenblick. Als der Gelehrte ihm aber zurief, es handle sich geradezu um die Ehre der Wissenschaft, schwang der geängstigte Diener in Todesverachtung das Glas so herum, wie es ihm befohlen worden war. Fast schien der Versuch zu gelingen. Im letzten Augenblick vor der Entscheidung aber schrie der Gelehrte mit Donnerstimme : „Langsamer!“ und das winzige Stocken der Bewegung genügte, daß sich im nächsten Augenblick der Inhalt des Glases in einer dicken Fontäne über die Livrée des Bediensteten ergoß.
„Ein Glück, daß es diesmal Weißwein war!“ jubelte der Gelehrte. „Die Physik hat anscheinend manchmal Launen.“ Und er schüttelte sich vor Lachen, als sich der Diener eiligst davonmachte.
„Wer ist dieser Schalksnarr?“ fragte Leibniz, den ein rätselhafter Zorn überkommen hatte, Herrn von Colbert-Croissy.


Dieser lachte.
„Sie sind zu streng, Herr Leibniz. Es ist unser berühmter Mathematiker Gallois. Mein Bruder braucht sein skurriles Wesen, um sich vom tragischen Ernst seiner Amtsgeschäfte zu erholen und abzulenken. Schon mehr als einmal hat unser großer Minister über ähnlichen Späßen seine Sorgen vergessen und neue Kraft geschöpft. So sonderbar Ihnen das scheinen mag.“
„Das begriffe ich noch. Es hat ja schließlich auch bei den bedeutendsten Herrschern Hofnarren gegeben“, erwiderte Leibniz. „Ich bin nur entsetzt, daß sich ein Gelehrter vom Rang eines Gallois, den ich bisher aus der Ferne verehrte, zu solchen Albernheiten hergibt. Verzeihen Sie, bitte, meine freie Ausdrucksweise, aber ich erachte ein solches Betragen geradezu als gefährlich für das Ansehen der Wissenschaft.“
„Ich widerspreche Ihnen nicht“, sagte Croissy leise. „Wir sind es aber nun einmal gewohnt.“
Obgleich diese kurzen Bemerkungen zwischen Leibniz und seinem Nachbarn durchaus nicht laut gewechselt worden waren, schien Gallois einiges hinübergehört oder zumindest gefühlt zu haben, was da gesprochen wurde. Denn er flüsterte einige Worte mit einem Nachbarn, stand dann auf und kam geraden. Weges auf Croissy zu.
„Hoher Herr von Croissy“, sagte er nach tiefen Verbeugungen, „dürfte ich Sie bitten, mich diesem ebenso jungen als klug blickenden Herrn vorzustellen? Er scheint sich für Physik zu interessieren. Denn er hat mich schon die längste Zeit angelegentlich beobachtet.“ Dabei zuckte es halb höhnisch, halblauernd in seinem feisten Gesicht.
„Es ist Herr Leibniz“, antwortete Croissy mit einer Geste der Vorstellung. „Sie dürften schon von ihm gehört haben.“ Gallois pflanzte sich mit sonnigem, jovialem Lächeln vor Leibniz auf. Er legte wie ein pathetischer Schauspieler die Hand aufs Herz.
„O, welch ein glücklicher Zufall“ schmetterte er plötzlich heraus. „Ich hätte nicht gehofft, heute noch den Mann kennen zu lernen, der das Problem der Quadratur des Rechteckes gelöst hat.“ Und er blickte gespielt verlegen um sich, als ihm von allen Seiten schallendes Gelächter antwortete.
Leibniz aber, der sich ohne jede Schuld zum Gegenstand dieses sinnlosen Scherzes, welcher fast einer öffentlichen Herabwürdigung gleichkam, degradiert sah, wußte im Augenblick keinen anderen Ausweg, als ohne jede merkbare Erregung mit kalter Liebenswürdigkeit zu erwidern:
„Sie überschätzen mich, Herr Gallois! Sie überschätzen mich maßlos. Ich arbeite gegenwärtig eben angestrengt an der Kubatur des Würfels.“
War es nun der Ton Leibnizens oder sein ganzes ernstes Wesen, das den Kontrast noch erhöhte: Auf jeden Fall übertraf das Gelächter über diese Antwort ganz bedeutend den Heiterkeitserfolg, den Gallois durch seinen Angriff erzielt hatte.
Diese von Leibniz durchaus nicht beabsichtigte Konkurrenz aber brachte Gallois in Zorn. Er wurde fahl im Gesicht und stieß fast weinerlich hervor:
„Sie sind eben ein Deutscher, Herr Leibniz. Deshalb verstehen Sie keinen Frohsinn und keinen Scherz.“ In diesem Augenblick drehte sich der Außenminister Marquis von Pomponne herum und sagte ebenso schnell als kalt:
„Das gehört nicht hieher, Herr Gallois. In keiner Weise. Herr Leibniz ist der Gast Seiner Majestät und der Nation, solange er hier weilt. Außerdem hat er ebenfalls mit einem Scherz geantwortet. Es gibt doch noch kein Privilegium auf Scherze, Herr Minister Colbert? Oder sollte es eingeführt werden?“
„Nichts für ungut, Gallois“, beschwichtigte Minister Colbert als er den entsetzten Blick des Spaßmachers sah. „Herr Leibniz hat genau verstanden, daß es ein Scherz war.“
„Und wird sogar über die Experimente grübeln, wie ich ihn kenne“, setzte Huygens fort.
„Ihre neueste Arbeit über die Gewinnwahrscheinlichkeit im Spiel hat mich sehr angeregt, Herr Gallois“, schloß Leibniz die Reihe der Schlichtungsversuche.
„Sehen Sie, wie liebenswürdig und vornehm der Deutsche ist“, lachte Arnaud de Pomponne.
„An seiner Noblesse habe ich meines Wissens nicht gezweifelt“, sagte Gallois eisig. Dann lächelte er höhnisch und zischeltet „Wenigstens hat man einmal persönliche Bekanntschaft geschlossen. Und wird dadurch einander besser im Gedächtnis behalten.“ Und er verbeugte sich und ging zurück an seinen Tisch.
Trotz seines abgrundtiefen Grolls konnte er allerdings nicht umhin, schon nach wenigen Minuten neue Späße mit großem Lärm in Szene zu setzen.
„Er scheint seine gute Laune wiedergewonnen zu haben“, meinte Leibniz. „Er ist ja wirklich ein Unikum. So viel Weisheit und Abgeschmacktheit ist in einer Person selten zugleich vorhanden. Hoffentlich hat er mir schon verziehen, dieses sonderbare Monstrum!“
„Mit Ihrem letzten Satz sind Sie leider im Irrtum“, erwiderte Croissy Verstimmt. „Mir war der Zusammenstoß höchst peinlich. Denn Gallois ist vollkommen maßlos und unberechenbar in seiner Rachsucht. Ich plaudere ein Geheimnis aus, wenn ich sage, daß selbst mein allmächtiger Bruder seine Unversöhnlichkeit ins Kalkül zieht. Auch Arnaud de Pomponne hätte weniger scharf sein sollen. Das Monstrum, wie Sie den Spaßvogel nannten, ist sehr, sehr gefährlich. Für jeden Fall haben Sie an Gallois einen Feind fürs ganze Leben. Sie werden sich an diese Worte erinnern und sich hüten müssen, Herr Leibniz!“
Leibniz schüttelte verwundert den Kopf. Der Ton des Herrn Croissy aber ließ ihm keinen Zweifel, daß dieser äußerst kluge junge Staatsmann wußte, warum er so sprach.


Nach dem Imbiß hatte die Gesellschaft einen anderen Rhythmus bekommen. Man war aufgestanden, die Tische waren fortgeräumt worden und es hatten sich allenthalben plaudernde und lustwandelnde Gruppen gebildet, die langsam den Zusammenhang miteinander verloren und sich in die Alleen des Parkes zerstreuten. Es hieß, daß mit sinkender Dämmerung der Tanz beginnen und dann ein Feuerwerk abgebrannt werden würde. Leibniz hatte eben Tschirnhaus wieder getroffen, der seit einer Stunde seinen Blicken entschwunden gewesen war, und unterhielt sich mit ihm in gedämpftem Ton über die Attacke des Herrn Gallois, wobei Tschirnhaus in zunehmende Erregung geriet und nach einiger Zeit die volle Kraft seines schmetternden Organs entfaltete. Leibniz mußte über die Drohungen, die Tschirnhaus gegen Gallois ausstieß, lächeln und wehrte seiner Leidenschaftlichkeit nicht weiter, da die Unterhaltung in deutscher Sprache geführt wurde und beide überzeugt waren, es befinde sich im Hause Colberts kein Mensch, der sie verstehen könnte.
Gleichwohl blickte Leibniz instinktiv umher, als die Zornesausbrüche des Grafen Tschirnhaus immer heftiger wurden. Der Ton allein mußte ja Aufsehen erregen, auch wenn man kein Wort auffaßte.
Allerdings stellte Leibniz nach einiger Zeit fest, daß die Vorübergehenden sich durchaus nicht um sie kümmerten. Er antwortete also Tschirnhaus und versuchte ihn zu beruhigen. Da merkte er aber, halb unbewußt, daß ein außerordentlich prächtig gekleideter Edelmann schon zum dritten Male an ihnen vorbeikam und sie beide mit einem eigentümlichen Blick streifte. Überhaupt war das Gesicht dieses Fremden merkwürdig. Das Alter des Edelmannes war kaum bestimmbar. Er mochte vierzig Jahre alt sein, obgleich er viel älter aussah. Das Hervorstechendste an seinem Antlitz war eine fahlgelbe kränkliche Hautfarbe und ein verzerrter, zerrütteter Ausdruck, der durch all die Eleganz der schlanken höfischen Gestalt nicht wettgemacht wurde. Die Augen aber hatten trotz ihres dunklen Glanzes etwas abgrundtief Trauriges und Erloschenes.
Eben wollte Leibniz den Grafen Tschirnhaus auf den Fremden aufmerksam machen, als dieser sich wieder umdrehte und unschlüssig stehen blieb. Er starrte einige Augenblicke auf die beiden, dann warf er wie nach schwerem inneren Kampf, den Kopf zurück und kam auf sie zu.
„Über Gallois sprechen wir noch später“, raunte Leibniz schnell dem Grafen Tschirnhaus zu und sah dem Nähertretenden entgegen.
„Wer ist das?“ flüsterte Tschirnhaus, der den Fremden jetzt erst bemerkte.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Leibniz und blickte zu Boden, da er nicht sicher war, ob der Fremde nicht doch vielleicht an ihnen vorübergehen würde.
Der nächste Herzschlag aber brachte bereits eine Klärung.
„Sie sind Deutsche, meine Herren“, begann der Fremde auf Deutsch nach einer steifen und sehr nachlässigen Verbeugung. „Ich bin erst vor einigen Tagen in Frankreich eingetroffen.“ Sofort setzte er französisch fort: „Sie verzeihen mir, daß ich mich wundere. Ich habe nicht erwartet, hier, bei Minister Colbert, Landsleute zu treffen. Aber ich störe sicherlich. Ich bin es gewohnt, von meinen Landsleuten als lästig empfunden zu werden.“ Dabei huschte ein wütendes, verzerrtes Grinsen über sein gelbes Gesicht.
„Im Gegenteil, es ist uns ebenso interessant als erfreulich, wieder einmal einen Gruß von jenseits des Rheins zu erhalten“, erwiderte Leibniz sehr verbindlich.
Tschirnhaus aber lachte freimütig und sagte:
„Wir wollen uns dieses Zusammentreffen in der Fremde doch nicht durch bittere Erinnerungen vergällen. Nicht wahr?“ Der Fremde sah Tschirnhaus sogleich lauernd und kritisch an.
„Wissen Sie, wer ich bin? Bittere Erinnerungen? Gut, ich gebe zu, daß mein ganzes Wesen nicht zu diesem herrlichen Tag und ebensowenig zu einem Fest stimmt. Es war Vielleicht taktlos, Sie anzusprechen. Ich will nicht länger stören.“ Und er machte Miene, wieder fortzugehen.
Leibniz wußte sogleich, daß es sich da um ein nicht alltägliches Schicksal handelte. Und fürchtete, daß eine weitere Äußerung des Grafen Tschirnhaus den Fremden auf Nimmerwiedersehen vertreiben würde. Deshalb sagte er schnell:
„Graf Tschirnhaus hat Sie sicherlich nur erheitern wollen. Wenn Sie es gestatten, werden wir uns Ihnen ein wenig anschließen. Es wäre für uns auf jeden Fall ein Gewinn.“
Der Fremde nickte, bitter lächelnd, mit dem Kopf.
„Nun gut!“ murrte er düster. „Ich will nicht an Ihrer Aufrichtigkeit zweifeln, obgleich Sie in echt französischen Höflichkeitsfloskeln sprechen. In Sätzen, die alles und nichts bedeuten können. Sie werden auch sofort andre Töne anschlagen, wenn Sie hören, daß ich der berüchtigte Herzog Christian Ludwig von Mecklenburg-Schwerin bin.“ Er machte eine Pause, als ob er einen Sturm der Entrüstung erwartete.
Auf Tschirnhaus hatte die Namensnennung keine andre als eine rein rangmäßige Wirkung. Er verbeugte sich sehr höfisch.
Leibniz aber sammelte einen Augenblick lang in Gedanken alles, was er über diesen Herzog gehört hatte: Gehaßt und verfolgt von seinen Untertanen. So gut wie aus dem Lande verjagt. Niemand wußte genau, warum. War er ein Tyrann? Ein Wahnsinniger? Ein Weichling? Er hatte sich von seiner ersten Gattin, einer Protestantin, unter dem Vorwand zu naher Verwandtschaft, scheiden lassen. Hatte dann die Witwe des Herzogs von Coligny geheiratet. Vielleicht war das der Grund seiner Vertreibung? Glaubenszwiste? Intrigen?
„Ich sehe keinen Anlaß, meinen Ton zu ändern“, erwiderte Leibniz verbindlich. „Es ist selbstverständlich, daß ich manches über Eure Hoheit gehört habe, obwohl ich mich jetzt mehr mit Mathematik als mit Staatsangelegenheiten befasse...“
„Sie sind Diplomat ?“ Der Herzog zuckte zusammen.
„Ich bin Rat des Kurfürsten von Mainz und heiße Leibniz. Wie schon gesagt, treibe ich jetzt vorwiegend mathematische Studien.“
„Das ist schade, sehr schade“, antwortete der Herzog wegwerfend. Plötzlich raffte er sich wieder zusammen. „Hören Sie nicht auf meine Reden, Herr Leibniz. Ich meinte es anders.“
„Kann ich Ihnen nicht irgendwie nützlich sein? Sie erwähnten, erst vor kurzer Zeit Frankreich betreten zu haben.“ Leibniz, auf den das zerfahrene Wesen des Herzogs ein wenig übersprang, verbesserte sich sofort: „Sie lächeln mit Recht, Hoheit. Aber ich dachte mir meine Hilfe etwa in der Form der Maus, die dem Löwen hilft.“
Da stieß der Herzog ein heiseres, verzweifeltes Gelächter aus:
„Ich bin die Maus, ich bin die Maus. Was bin ich denn? Weil ich einmal Herzog war? Nein, Herr, Herr, wie heißen Sie doch, Herr Mathematiker? Wenn Sie nur kein Mathematiker wären! Dann wäre es schon besser. Aber ich bin hier so hilflos wie ein Kind. Ich brauche einen Menschen, der die Jura aus dem Ärmel schüttelt, und ich treffe berühmte Mathematiker unter meinen Landsleuten.“
„Juristen gibt es doch hier in Paris mehr als genug?!“ Leibniz, der langsam am Verstand des Herzogs zu zweifeln begann, sah fragend in dessen irr flackernde Augen.
„Was hilft mir ein Pariser Jurist!“ rief der Herzog klagend. „Sie wissen ja nicht, worum es sich handelt. Ich brauche einen deutschen Juristen, brauche einen Mann, der das Wirrsal des deutschen Rechts beherrscht. Alles ist gegen mich. Doch was geht Sie das an? Sie, den großen Mathematiker?“ Und er lachte wieder schrill auf.
„Vielleicht geht es Leibniz mehr an, als Sie denken“, mengte sich Tschirnhaus ein.
„Also auch hier Verhöhnung?“ der Herzog war noch blässer geworden. „Jetzt habe ich genug. Sie scheinen noch wenig Unglück erlitten zu haben, junger Mann.“
„Möglich!“ Tschirnhaus reckte sich auf und blitzte mit den Augen. „Sie können recht haben, Hoheit. Aber in einem haben Sie unrecht. In Ihrer Ansicht nämlich, daß Leibniz nichts als ein Mathematiker ist. Er ist, soweit man weiß, auch einer der größten Rechtsgelehrten Deutschlands. Diesmal haben Sie Glück gehabt, Hoheit.“
Der Herzog blickte von einem zum anderen. Dann griff er sich an den Kopf und murmelte:
„Ich hätte wissen sollen, daß man mich auch hier verhöhnt und verfolgt.“ Und er drehte sich um und enteilte unaufhaltsam in merkwürdig straffem Schritt.


Eine kühle, durchflirrte Dämmerung hatte sich über das Fest Colberts gelegt. Die Konturen der gestutzten Alleewände standen scharf gegen einen rotgelben Himmel abgezeichnet, und das Plätschern der Springbrunnen und Kaskaden ertönte lauter.
Auf riesigen Tabletten wurden durch die Diener Kelche mit sprühenden Weinen herumgetragen und die Stimmen der Damen dämpften sich zu Geflüster, während Wogen von Parfum mit den Düften feuchter Blumen wetteiferten.
Leibniz hatte in diesen Stunden noch viel erlebt. Er schlenderte jetzt in wohliger Ermüdung allein durch die Buntheit der Gäste, deren Zahl mit dem sinkenden Abend sich eher vermehrte als abnahm.
Den tiefsten Eindruck hatte ihm die zweite Unterredung mit dem düsteren Herzog von Mecklenburg-Schwerin hinterlassen, da sie ihn zugleich vor eine große Aufgabe gestellt hatte und seiner weiteren Tätigkeit in Paris eine bestimmte Richtung wies.
Es war so gekommen: Kurze Zeit nachdem der Herzog den Grafen Tschirnhaus und ihn erbittert hatte stehen lassen, war Tschirnhaus wieder mit der Baronin Laroche zusammengetroffen und hatte sich von Leibniz empfohlen. Leibniz aber war dann, nachdem er zahlreiche Bekannte begrüßt hatte, plötzlich durch einen Edelmann zu Colbert gebeten worden, der ihn angeblich schon lange suchte. Das Erstaunen Leibnizens war groß gewesen. Denn niemand anderes als der Herzog von Mecklenburg war mit Colbert in ein angelegentliches Gespräch vertieft, als er sich beim Minister meldete. Colbert hatte ihn mit geradezu überschwenglicher Liebenswürdigkeit aufgefordert, sich an diesem Gespräch zu beteiligen, und es hatte sich herausgestellt, daß der Herzog von Mecklenburg einen deutschen Kronjuristen deshalb dringend brauchte, weil er sich in einer höchst verworrenen Lage befand. Er wollte sich nämlich auch von seiner zweiten Frau, der Witwe des Herzogs von Coligny, scheiden lassen, um dadurch vielleicht wieder eine Versöhnung mit seinen Untertanen anzubahnen. Nun mußte diese Scheidung aber strenge den Gesetzen seiner Heimat gemäß erfolgen, da er sonst Gefahr lief, nicht nur sein eigenes Land, sondern auch Frankreich zu verstimmen, dessen Gastfreundschaft er sich für den Fall sichern mußte, daß ihm trotz allem eine Heimkehr unmöglich war.
Leibniz hatte, ungeachtet der Vermittlung Colberts, der ihn dem Herzog als einzigen möglichen Rechtsbeirats und Helfer vorschlug, große Mühe aufwenden müssen, um den Stolz und das Mißtrauen des am Rande seelischer Zerrüttung angelangten Herzogs zu besiegen. Denn der Herzog witterte in jedem Satz eine Falle und war überzeugt, Leibniz habe es nur darauf abgesehen, sich für den Auftritt von vorhin zu rächen.
Als endlich die Unterredung in halbwegs ruhige Bahnen gekommen war, hatte Colbert Leibniz mit dem Herzog allein gelassen und Leibniz war es dann geglückt, den Herzog durch seine Rechtskenntnisse mehr als einmal in höchstes Erstaunen zu versetzen. So daß der Herzog schließlich Leibniz die Ausarbeitung der Staatsschriften und Rechtsurkunden in aller Form übertragen und ihm schon jetzt ein schwindelnd großes Honorarium in Aussicht gestellt hatte, über das er Leibniz bat, sofort zu verfügen.
Der Herzog hatte sogar in seinem stets wieder hervorbrechenden Mißtrauen den Außenminister Pomponne und Colbert-Croissy als Zeugen dieses Paktes herbeigeholt und war darauf bestanden, ihn sogleich schriftlich zu formulieren, was Leibniz natürlich nicht ablehnen konnte, obgleich er in einer kleinen Wallung von gekränktem Ehrgefühl fast das Honorarium hatte zurückweisen wollen.
Als er nun jetzt, nach Erledigung all dieser schicksalsschweren Dinge, durch den herrlichen Abend ging und ein Glas Wein von einem der Tablette nahm, um es an die Lippen zu führen, fühlte er sich seltsam gehoben. Er war in einer Stimmung, die jeden Gegensatz auf der Erde nichtig und unmöglich wähnte. Und ein tiefes Bedauern und Mitleid für den landflüchtigen Herzog, ein großes Ergötzen über den albernen Spaßmacher Gallois überkam ihn. Und er war mit sich selbst zufrieden und dankte Gott inbrünstig, daß ihm ein Gemüt beschert worden war, jenseits von Haß und Verzweiflung. Doch leistete er sich ebendeshalb selbst das Gelöbnis, diese Gemütsbeschaffenheit, die ihn überall außerhalb von tiefen Verstrickungen stellte, nie als Verdienst, sondern stets nur als Gottesgeschenk zu betrachten.
Er hatte den Kelch, einer sonderbaren Laune unterworfen, mit der Versuchung geleert, den Göttern Griechenlands den Rest des Weines als Trankopfer zu spenden, als plötzlich ein ungemein kleiner und zierlicher Edelmann vor ihm stand und sich tief verneigte.
Leibniz blickte, erstaunt über die ungewöhnliche Erscheinung, auf und lächelte. Ach, das war ja der Knabe mit den klugen, leuchtenden Augen, den er heute schon einmal flüchtig gesehen hatte! Er hatte ihm sogar damals innerlich die Bezeichnung eines „Modells von einem Edelmann“ zugelegt, da die Kleidung des Knaben sich in nichts von der eines Erwachsenen unterschied. Der Knabe trug sogar einen Degen. Allerdings war Leibniz durch die Kontroverse mit Gallois wieder von der Betrachtung des Knaben abgelenkt worden, der dann seinen Blicken und seinem Gedächtnis entschwunden war.
„Mein Name ist Marquis de l”Hospital“, stellte sich der Knabe mit einer feinen, hohen Kinderstimme vor. In seinen Augen, die offen und klar auf Leibniz gerichtet waren, lag ein Ausdruck tiefer Hingabe und das Fehlen jeder Scheu oder Verlegenheit.
Leibniz verblüffte dieser Blick. Sein Lächeln zerrann. Der sicherlich kaum Vierzehnjährige zwang ihn dazu, ihn als Erwachsenen zu nehmen.
„Es ist mir ein ausgezeichnetes Vergnügen“, erwiderte Leibniz formell, nahm die ihm gebotene weiche Knabenhand und verbeugte sich ebenfalls. „Ich heiße Leibniz und stehe in kurmainzischen Diensten.“
„Das weiß ich“, sagte der kleine Marquis entschieden. „Ich weiß es um so mehr, als ich eigentlich nur deshalb mir von meinen Eltern die Erlaubnis auswirkte, dieses Fest zu besuchen, um Sie, Herr Leibniz, einmal zu sehen.“
„Um mich zu sehen? Sie beschämen mich, Marquis.“Leibniz war so maßlos erstaunt, daß er alles vergaß und in einen verbindlichen Gesellschaftston verfiel.
Der Knabe errötete ein wenig.
„Ich weiß nicht“, antwortete er gepreßt, „ob Ihre Worte jetzt Hohn oder eine Zurechtweisung sind. Mir ist der Geist aller Erwachsenen heute klarer als ihr Charakter und ihre Ansichten über die Dinge des Lebens. Darum habe ich auch von vornherein beschlossen, es bei einigen Worten bewenden zu lassen. Ich sehe ein, daß ich noch ein Kind bin und Erwachsene nicht weiter interessieren kann. Was ich aber nicht vermag, was mir trotz aller Erkenntnis meiner Jugend unmöglich scheint, ist ein Schweigen über das Benehmen des Herrn Gallois. Deshalb allein wagte ich es, mich Ihnen vorzustellen. Ich habe auch die Freundlichkeit des Herrn Huygens abgelehnt, der mir anbot, unsre Bekanntschaft zu vermitteln. Ich wollte mich allein und feierlich an Ihre Seite stellen, Herr Leibniz. Gallois hat gefrevelt. Insbesondere mit seinem üblen Scherz über die Quadratur des Rechtecks. Sie sind einer der größten Mathematiker des Jahrhunderts, Herr Leibniz. Wenn nicht der größte. Ich kann es beurteilen.“
Leibniz hatte den Klang der Knabenstimme noch im Ohr, als der kleine Marquis schon geendet hatte. Aber noch mehr war mit diesen unglaubwürdigen Worten auf ihn übergeströmt. Eine Woge von Reinheit, Vornehmheit und Erkenntnistiefe, der er wehrlos unterlag und in Wonne unterliegen wollte. Sollte der Fluch plötzlich gebannt sein? Haßten ihn heute die Väter, während ihn die Söhne liebten? Hatte seine unausgesprochene Anrufung der Götter Griechenlands die Haine Attikas heraufgezaubert, in denen ahnungschwere Knaben wandelten? Doch er mußte antworten, schnell antworten, denn die Augen des kleinen Marquis begannen sich in Schmerz und Enttäuschung zu verdunkeln.
Und Leibniz sagte leise und fast schüchtern:
„Was hat Sie veranlaßt, Marquis, so stark an mich zu glauben?“
Da wurde de l‘Hospital sogleich wieder sicher:
„Ich habe bei Herrn Huygens einige Ihrer neuen mathematischen Entdeckungen gesehen, Herr Leibniz. Ich habe sie geprüft und weitergesponnen. Es sind Erleuchtungen. Besonders Ihre Auflösung der Kreiszahl in eine unendliche Reihe hat mich fasziniert.“
„Sie sind Mathematiker?“ Leibniz, in dessen Erinnerung blitzartig die geistigen Höhenflüge seiner eigenen Kindheit heraufschossen, zweifelte nicht mehr, ein Bruderwesen, einen Doppelgänger vor sich zu haben.
„Herr Huygens setzt einige Hoffnungen auf meine mathematische Zukunft“, erwiderte der Knabe einfach. „Doch jetzt will ich Sie nicht länger belästigen, Herr Leibniz. Ich wollte Ihnen nur persönlich sagen, daß ich bis an mein Lebensende an ihrer Seite kämpfen werde. Die besondere Sprache Ihrer Mathematik klingt meinem Ohr wie eine lang entbehrte Muttersprache. Nirgends fand ich dies. Ein wenig vielleicht bei Descartes.“ Und er verneigte sich tief.
Da faßte Leibniz seine Hand und hielt sie fest.
„Darf ich Sie etwas bitten, Marquis de l”Hospital ?“
„Alles“, erwiderte der Knabe ängstlich, da er seinen Traum und sein Idol nicht durch Alltäglichkeiten verlieren wollte. „Ich werde alles für Sie tun, was ich kann“, setzte er noch hinzu.
„So war es nicht gemeint.“ Leibniz der die Furcht vom Antlitz des Knaben ablas, lächelte. „Nein, Marquis, Ihre Hilfsbereitschaft in Ehren, aber es handelt sich mir nicht um Protektion. Widersprechen Sie nicht. Leugnen Sie auch nicht, daß eine solche Bitte in dieser Stunde eben der größte Schmerz wäre, den ich Ihnen zufügen könnte. Trotz meines harten Lebenskampfes bin ich kein Erwachsener in Ihrem pessimistischen Sinn. Mich werden Sie verstehen, weil auch ich Sie verstehe. Ich wollte Sie nur bitten, Marquis, sich für den Rest dieses herrlichen Abends mir zu p widmen und sich mit mir in jener lang entbehrten Muttersprache zu unterhalten. In jener reinsten Sprache der Größen, Formen und Rätsel. Und Ihnen werde ich heute als kleine Gegengabe für Ihre reine Freundschaft von Ahnungen erzählen, die bisher außer Tschirnhaus niemand auf der Erde kennt.“
„Sie werden keinem Unwürdigen Ihr Vertrauen schenken“, sagte der Knabe und Tränen traten in seine vor Begeisterung geweiteten Augen. „Der Name de l'Hospital soll blank durch alle Zeiten strahlen, so daß jeder bekennen muß, daß es auch Edelleute des Geistes gibt. Das ist mein Ziel, Herr Leibniz. Ihr Wunsch aber hat mich glücklich gemacht. Glücklicher, als es mit Worten zu sagen ist.“
Musik ertönte, als die beiden durch die abendlichen Alleen schritten. Und manches schimmernde Auge einer schönen Marquise hob sich aus der seligen Entrückung flüchtigen Abenteuers und blickte erstaunt auf die fremde Welt dieses Knaben, der Endgültigeres, Herrlicheres eben zu gewinnen schien, als es ihm auch der süßeste Leib einer Frau je würde bieten können. Und mancher Mund wurde dadurch schweigsamer und verwirrter und vergaß es, Koseworte und Koketterien zu formen.


índice
Lección 269c ← Lección 270c → Lección 271c