Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 307c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


61. Das furchtbare „propterea“[editar]

In Hannover am 14. November 1716. Leibniz hatte um sieben Uhr abends die zwei Kinder, die ihn den ganzen Nachmittag durch ihre Spiele und Einfälle ergötzt hatten, reichbeschenkt zu ihren Eltern heimgeschickt. Es war viel von Weihnachten die Rede gewesen. Und Leibniz hatte es, den Kleinen gegenüber, beinahe als Falschheit empfunden, daß er mit ihnen Weihnachtspläne gemacht hatte, wo er doch wahrscheinlich um jene Zeit längst nicht mehr in Hannover sein würde. Dabei hatte ihn unausgesetzt ein Gedanke mahnend begleitet. Wo waren heute all die Kinder, die in diesem Erkerzimmer gespielt hatten? Wie viele von ihnen waren schon selbst Väter und Mütter! Verkauften Waren in umliegenden Geschäften, betrieben ehrsame Handwerke, saßen als Schreiber in der Ratsstube Hannovers. Und er, Leibniz, machte inzwischen nicht nur Weihnachtspläne, sondern erwog nicht weniger als den Beginn eines vollständig veränderten neuen Lebens.
Etwa eine halbe Stunde, nachdem die Kleinen gegangen waren, betrat sein Sekretär Eccard den Raum. Leibniz sah ihn fragend an. Denn heute mußte ja endlich die entscheidende Nachricht aus England eingetroffen sein.
„Es ist wieder nichts gekommen“, sagte Eccard dumpf, der einen Stoß andrer Briefe in der Hand hielt.
„Wieder nichts?“ Leibniz, der im Lehnstuhl saß, zuckte mit den Achseln. „Es ist mir eigentlich schon gleichgültig, Eccard. Und es würde nichts ändern. Ich habe beschlossen, alles hier hinter mich zu werfen. Eine Sünde, daß ich es nicht schon früher tat. Wir gehen nach Wien, Eccard. Gibt es außerdem noch etwas Neues in Hannover?“
Eccard war zusammengefahren. Gut, er hatte alles kommen gesehen. Aber so schnell? Herr ist Herr. Und Leibniz ist der liebenswerteste Herr. Was für Arbeit jedoch diese Übersiedlung im Gefolge haben würde, wenn sie so überstürzt erfolgte, war nicht auszudenken. Das wußte Eccard besser als jeder andere.
Leibniz lächelte, als er das erschrockene Gesicht des Sekretärs sah. Kam aber nicht dazu, etwas zu sagen, da Eccard, noch ein wenig heiser vor Aufregung, meldete:
„Man hat mich in die ,Rote Schenke‘ gerufen, als ich an ihr vorbeikam. Dort wurde ich von einem gewissen Doktor Seip, fürstlich Waldeckschen Leibarzt, empfangen. Herr Doktor Seip entbietet Herrn Geheimen Justizrat seinen ergebenen Gruß. Alles übrige stelle er Herrn Justizrat anheim.“
„Ach, Seip!? Damit Sie unterrichtet sind, lieber Eccard. Ich lernte ihn im heurigen Sommer im Bad Pyrmont kennen. Etwa um die Zeit, als ich mit dem Zaren zusammentraf. Einer der besten Ärzte, die ich je fand. Praesente medico nihil nocet. Ich bin förmlich beruhigt, daß er in Hannover weilt. Ich werde ihn. konsultieren. Mich schmerzt nämlich heute wieder tüchtig die elende Gicht in der Schulter.“
„Soll ich das bewußte Decoct des Ingolstädter Jesuiten vorbereiten lassen, Herr Geheimer Justizrat?“
„Noch nicht, Eccard. Ich werde darum bitten, wenn sich die Schmerzen steigern. Vielleicht aber senden Sie den Diener hinüber zur ,Roten Schenke‘. Ich lasse Herrn Doktor Seip grüßen und werde mich freuen, wenn er mich in den nächsten Tagen besucht.“
„Noch etwas, Herr Geheimer Justizrat?“
„Nein, Eccard. Sichten Sie bis zum Abendessen die Briefe. Ich werde sie erst in der Nacht vornehmen.“
Als Eccard gegangen war, quoll die mühsam unterdrückte Enttäuschung in Leibniz herauf und gewann Macht über ihn. Warum gelang seit zwei Jahren aber auch nichts, nicht das geringste? Seit jenem Sommer 1714, in dem sich der „Wettlauf mit dem Tode“ zu seinen Ungunsten entschieden hatte? Fast unwahrscheinlich, mit welcher teuflischen Präzision die Entscheidung gefallen war. Und wie das ganze Räderwerk von Ereignissen außerdem noch ineinandergespielt hatte: die große Kurfürstin Sophie war im Juni des Jahres 1714 im Park von Herrenhausen spazieren gegangen, als man ihr die Nachricht einer ebenso feinen wie tückischen Intrige der Königin Anna von England überbrachte. Eine Stunde später, noch im Park, hatte die Aufregung sie getötet und es war ihr skeptischer Wunsch damit erfüllt, ohne Arzt und ohne Priester zu sterben. Dieser erste Tod jedoch erzeugte unmittelbar oder mittelbar einen zweiten. Denn auch Anna von England war dem stummen und doch so beredten Machtkampf um die Thronfolge, in die jetzt Kurfürst Georg mit starrer Härte eingriff, nicht gewachsen und schloß kaum zwei Monate später die Augen für immer, ohne vorher die Sukzessionsakte abgeändert zu haben. Da war nichts mehr zu deuteln. Die riesige Vorarbeit, die Leibniz, Sophie und nicht zuletzt der schottische Ritter Ker von Kersland in England geleistet hatten, führte nun selbsttätig Georg von Hannover auf den Thron Großbritanniens.
Leibniz aber war dadurch um die Früchte seiner Tätigkeit in einem Maße betrogen, das er sich noch nicht annähernd so schlimm vorgestellt hatte, als es tatsächlich eingetroffen war. Ein kalter, beinahe grober Befehl hatte ihn aus Wien abberufen und selbst Kaiser Karl VI. und Prinz Eugen konnten und durften es im höchsten Staatsinteresse nicht wagen, ihn, dem Wunsche des englischen Königs zuwider, in Wien festzuhalten.
So war Leibniz, müde und enttäuscht, zu Ende September 1714 nach Hannover zurückgekehrt und hatte Georg nicht mehr angetroffen. Wohl aber einige zurückgelassene Minister, die nunmehr ihren Zorn, nicht sofort ins englische Kabinett aufgerückt zu sein, an Leibniz ausließen. Man hatte ihn, den Ratgeber des deutschen Kaisers und den Freund Prinz Eugens, nicht anders behandelt als einen pflichtvergessenen kleinen Hofbeamten. Und alle die Schranzen und Edelleute, die sich jahrelang, wahrscheinlich innerlich schäumend, vor dem allmächtigen „Parvenü“, dem Freund und Vertrauten der noch allmächtigeren großen Sophie gebeugt hatten, beeilten sich jetzt, durch Eselstritte aller Art ihre Anhänglichkeit an Georg I. Von England zu beweisen.
Leibniz hatte vorerst die Schikanen mit philosophischer Geduld über sich ergehen lassen. Denn er hatte noch gehofft, Georg werde die Pietätlosigkeit gegen seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester, auch seinen Undank und seine eigene Bloßstellung vor der gelehrten Welt ganz Europas nicht so weit treiben, einem Leibniz geradezu ins Gesicht zu schlagen. Wie gesagt, er hatte noch gehofft, die Haltung der Kreise von Hannover sei nichts als das Ressentiment bisher unterdrückter und einflußloser Mittelmäßigkeit. Und er hatte, um eine Versöhnung mit Georg zu erleichtern, diesem einen Brief geschrieben, er, Leibniz, wolle demnächst nach England reisen, um dort seine Sache gegen Newton und gegen die Freigeisterei persönlich zu führen. Und er bitte deshalb um Erlaubnis zu dieser Reise.
Die Antworten, die er von Bernstorff und Görtz erhalten hatte, waren geradezu niederschmetternd gewesen. „Sie tun wohl, mein Herr, in Hannover zu bleiben und Ihre Arbeiten wieder vorzunehmen. Sie können auch durch nichts andres besser die Gunst des Königs zurückerlangen und Ihre früheren Abwesenheiten gutmachen, als wenn Sie Seiner Majestät, falls Sie wieder einmal nach Hannover kommen sollte, einen guten Teil der Arbeiten, die Seine Majestät schon allzulange erwartet, untertänigst vorlegen. Ich hoffe, mein Herr, Sie werden auch die Kapitel, von denen wir seinerzeit sprachen, jene Kapitel über die Völkerwanderung, nicht vergessen. Da uns nun Eccard versprochen hat, für Sie Materialien vorzubereiten, so hoffe ich, mein Herr, daß Sie Ihr Werk endlich zur Genugtuung der Majestät und nicht zuletzt zu Ihrem eigenen Ruhme je eher desto besser vollenden können.“
Gleichzeitig aber hatte ihn Görtz in schroffer Form wissen lassen, König Georg habe sich über seine, Leibnizens, Dienstleistung und auch über seine wissenschaftliche Arbeit ungünstig, wenn nicht geradezu abfällig ausgesprochen. Und man hatte die Konsequenzen solcher „Wohlmeinung“ so weit getrieben, daß man Leibniz nicht nur das Gehalt für die Zeit seiner Abwesenheit kurzerhand gestrichen, sondern daß man ihm sogar nicht einmal seine Bar-Auslagen, die er unmittelbar im Dienste der Erstreitung der englischen Thronfolge auslegen hatte müssen, vergütet hatte. Und noch mehr und wieder mehr. Die Ungnade Georgs und seiner haßerfüllten Berater hatte sogar auf den unschuldigen Ritter Ker von Kersland übergegriffen, der nicht weniger als sein ganzes riesiges Vermögen aus purem Idealismus für eine der hannöverschen Thronfolge günstige Politik in England geopfert hatte. Leibniz hatte, ohne daß Ker es wußte, in heller Empörung über die Perfidie Georgs, aus eigener Tasche eine größere Schuld getilgt, die der verarmte Ker in Deutschland aufgenommen hatte, nur, um weiter für die Welfen arbeiten zu können. Was mit Leibniz auch nur entfernt in Berührung stand, war verfemt. Kers Verbrechen hatte einzig und allein darin bestanden, daß er im besten Glauben gemeinsam mit Leibniz in Wien an der hannöverschen Sache gearbeitet hatte.
Leibniz hatte zuerst den Plan erwogen, dem Befehl des Königs, in Hannover zu bleiben, einfach zu trotzen. Und wie ein Racheengel in London zu erscheinen, um in einem riesigen Angriff und in gigantischer Verteidigung mit Einsatz selbst des Lebens seinen Ruf vor Europa und vor der Ewigkeit wiederherzustellen. Dieser Angriff konnte für den noch in England vollkommen ungefestigten Georg um so furchtbarer werden, als nicht nur der ganze Geist Frankreichs, Italiens, Deutschlands, Österreichs und Rußlands, sondern auch die höchst realen Mächte des Kaisers, des Zaren und des Prinzen Eugen, vielleicht oder wahrscheinlich sogar Ludwigs XIV. hinter ihm standen, und Georg dem allen nichts anderes entgegenzusetzen hatte, als die kleinlichen und beschränkten Minister Bernstorff und Görtz und die gehässige und sogar in sich uneinige Clique um Newton.
Fast hätte Leibniz den Plan ausgeführt, um so mehr, als ein Mitglied der Berliner Sozietät, Herr von Ancillon, der Erreger eines europäischen Gelehrtenklatsches geworden war, der sich in teilnehmender oder schadenfreudiger Weise mit der „Ungnade“ befaßte, die über Leibniz lastete.
Inzwischen war aber noch ein andres Riesengebäude Leibnizschen Geistes schon in den Fundamenten zerbrochen: die Gründung der Akademie in Wien war aufgegeben worden, der Kanzler Zinzendorf und die anderen Machthaber am Wiener Hofe hatten sich unbekannten, anscheinend jedoch stärkeren Mächten gebeugt. Und es war nur ein schwacher Trost für Leibniz gewesen, daß der Kaiser ihm das Fallenlassen des Planes mit der ihm, Leibniz, ja hinreichend bekannten Geldknappheit des Wiener Hofes motiviert hatte.
Dazu noch der Prioritätsstreit mit Newton, der stets sichtbarer einem Höhepunkt zugestrebt hatte.
Leibniz hatte nach Monate wahrendem Seelenkampf seinen Plan, dem König von England auf dessen eigenem Boden zu trotzen, aufgegeben. Nicht aus Mangel an Mut. Sondern vornehmlich aus deutschem Patriotismus. Und aus Gründen allgemeinster Ethik. Das formale Recht stand auf der Seite Georgs. Nicht allein, weil er sein, Leibnizens, Herr war. Sondern weil. Leibniz die Ausarbeitung der von ihm selbst so weitläufig geplanten Welfengeschichte einst freiwillig übernommen und dann ebenso freiwillig ihre Vollendung versprochen hatte.
Diese zwei Jahre von 1714 bis 1716 waren wie ein banger Traum dahingeschlichen. Hannover, jetzt eine periphere Provinz, zum Rang von „Erblanden“ degradiert, die man vielleicht einmal besuchen würde, war öde und ereignislos, gleichsam entgöttert und entthront, in stumpfem Trott den Alltagspflichten nachgegangen. In einem Trott, dem sich auch Leibniz bei seinen „Testimoniis“, deren Gefangener er war, schließlich angepaßt hatte.
Nur einmal noch, im Jahre 1715, hatte sich das Geschehen für Leibniz zu dramatischer Höhe gesteigert: der unzeitgemäße Tintenklecks, jener Spuk einer längstversunkenen Koboldswelt, war plötzlich zum Leben erwacht, wenn man so sagen darf.
In den „Philosophical Transactions“, dem englischen Gegenstück zu den „Acta Eruditorum“, besser in deren Vorbild, war plötzlich, tückisch wie gewöhnlich, ein anonymer Aufsatz, genannt „Account of the Book, entitled Commercium Epistolicum“, also ein zusammenfassender Bericht über den „Brief-Streit“, erschienen, der seinen Autor Newton kaum verleugnete, obwohl behauptet wurde, daß weder Newton noch auch der giftige Keill vor der Sozietät aussagen würden oder einvernommen werden könnten. Es sei ja schon alles entschieden. Ein aus Mitgliedern verschiedenster Nationen zusammengesetztes Schiedsgericht (das bezog sich darauf, daß der Franzose De Moivre seinerzeit mitberaten hatte) habe sein Urteil gesprochen. Nun aber wurde in diesem „Account“, diesem Resümé des ebenso anonymen wie kalten und scheinheiligen Newton, nicht weniger behauptet, als daß Leibniz jenen Brief mit den Anagrammen schon im Herbst 1676 in London erhalten und bis zur Beantwortung mindestens sieben Monate studiert habe. Zeit genug also für einen Menschen der Geistesschärfe Leibnizens, die Anagramme zu entziffern. Und Leibniz sei hierauf, frühestens 1677, kurz bevor er damals Newton geantwortet habe, auf seinen Algorithmus „verfallen“. Natürlich war nicht all das ausdrücklich gesagt. Aber jeder Wissende konnte es zwischen den Zeilen herauslesen.
Doch wozu die genaue Geschichte dieser Niedrigkeiten aufrollen? Es genügt, zu erwähnen, daß Leibniz, aufs äußerste verbittert, gleiches mit gleichem hatte vergelten wollen. Und daß sich Johann Bernoulli trotz seiner unbegreiflichen Feigheit endlich entschlossen hatte, in den „Acta Eruditorum“ Keill und damit indirekt Newton anzugreifen, und daß er, Bernoulli, seine Hauptwaffe wieder hervorzog und darauf hinwies, daß Newton es nur seinem, Bernoullis, Neffen Niclaus zu verdanken habe, endlich zum Verständnis der höheren Differentialquotienten gelangt zu sein. Newton sei nämlich durch Niclaus Bernoulli seinerzeit in London darauf hingewiesen worden, daß eine von ihm mehrfach aufgestellte Behauptung nur richtig sei, wenn das Wort „ut“ eingefügt werde. Nun habe man, voran Keill, dies harmlos als Druckfehler erklären wollen. Natürlich habe der große Newton den Satz mit „ut“ gemeint. Aber, so hatte Johann Bernoulli seinen Angriff geschlossen, aber es sei mehr als verdächtig, daß derselbe Druckfehler bedauerlicherweise sich an von einander räumlich und zeitlich getrennten Stellen mit unfehlbarer Akkuratesse eingeschlichen habe, und nur an der Stelle verbessert worden sei, auf die Niclaus Bernoulli Herrn Newton aufmerksam gemacht habe. . .
Dann war noch die Vermittlung des Abbate Conti gefolgt, die vielleicht darauf zurückzuführen war, daß selbst Georg dem Ersten endlich das Unrecht schwach aufdämmerte, das an Leibniz begangen wurde. Oder war es ihm nicht aufgedämmert? Sein Verhalten in Pyrmont im Sommer 1716, zu welchem Zeitpunkt ihm Leibniz die Vollendung einer der titanischesten Leistungen der Geschichtsforschung, der Annalen Braunschweigs, melden hatte können, hatte fast gegen diese für Georg günstige Hypothese gesprochen.
Die Audienz Leibnizens war in eisiger Stimmung verlaufen. Und Georg hatte es schließlich mit herablassendem Scherz versucht, da er nichts gewußt hatte, was er Leibniz hätte vorwerfen können. Um so mehr, als Leibniz noch vor einem Jahr trotz aller Verbitterung mit einer blendenden Staatsschrift für Hannover gegenüber den feindlichen jakobitischen Strömungen in England auf den Plan getreten war.
Georg also hatte bei dieser Audienz durchblicken lassen, daß er von der Priorität Newtons so gut wie überzeugt sei. Er werde, da ihm der Streit politisch ungemein peinlich sei, Abbate Conti nach Hannover schicken, um Leibniz endlich „zu bekehren“. Und er hatte befangen gelacht. Leibniz hatte vorerst auf die Provokation nicht reagiert, sondern Georg nur kalt und sachlich über seine, Leibnizens, Gespräche mit Peter dem Großen Bericht erstattet. Wobei er Georg natürlich nicht undeutlich zu verstehen gegeben hatte, wie sich selbst ein unbeschränkter Herrscher einem Leibniz gegenüber zu betragen habe und wie er sich auch wirklich betrage. Da nun hatte Georg, merkwürdig unsicher und verlegen, mit einem pathetischen Bon mot die Audienz beendigt: „Auf jeden Fall preise ich mich glücklich“, hatte er sehr abrupt und ohne Zusammenhang mit dem Bericht Leibnizens plötzlich ausgerufen, „daß ich zwei Reiche besitze, in deren einem ich einen Leibniz, in deren andrem ich einen Newton meinen Untertanen nennen kann!“
Georg war kurz darauf abgereist und Leibniz hatte seither eine Nachricht aus England erwartet, die diesem letzten Ausspruchs Georgs vielleicht Rechnung tragen würde. Denn der Ausruf war ein deutlicher Rückzug des Königs gewesen. Und Leibniz wieder wollte seinen endgültigen Schlag, die Aufdeckung des Geheimnisses um den Tintenklecks, erst führen, wenn jede Hoffnung auf gütlichen Ausgleich mit Newton geschwunden war. Denn diese Enthüllung mußte das Hauptargument, die Möglichkeit der Entzifferung der Anagramme, widerlegen und damit das ganze Gebäude von Haß, Neid, Eitelkeit und Tücke, in das vielleicht Newton nur durch Fatio de Duillier und Keill so lange hineingehetzt worden war, bis er alles selbst glaubte, an der Grundmauer zerstören. Was blieb von der Anklage, Leibniz habe Newtons Anagramme monatelang studiert, übrig, wenn einmal bewiesen war, daß der unzeitgemäße Tintenklecks das Wort „heute“ vernichtet hatte? jenes Wort, aus dem unzweifelhaft hervorging, daß Newtons Brief Leibniz höchstens für einen Tag zur Verfügung gestanden war, bevor er ihn beantwortete? Wer kann das mißverstehen: „Ich erhielt heute Ihren lange erwarteten Brief und als Einschluß einen sehr schönen Brief Newtons“?
Da aber nun wieder die Post aus England nichts, aber auch nichts gebracht hatte, war der endgültige Entschluß heute in Leibniz gereift, sich nach Wien zurückzuziehen und von dort aus als Rat des Kaisers, als Berater des Zaren und als Person, als Leibniz, den Schlußkampf gegen alle Widersacher, auch gegen Georg, dem er nichts mehr schuldete, durchzufechten.
Leibniz wollte sich erheben, um Eccard wieder hereinzurufen, als ihn ganz unvermittelt ein furchbarer Anfall seines Steinleidens überwältigte. Er hatte noch die Kraft, den Diener zu rufen und die sofortige Bereitung des Decocts zu befehlen. Eccard kam bestürzt ins Zimmer. Man möge sogleich Doktor Seip holen, den ein guter Geist nach Hannover gebracht habe, lächelte Leibniz, worauf sich sein Gesicht sogleich wieder vor Schmerz verzerrte.
Es geschah. Leibniz hatte das Decoct schon zu sich genommen, als Seip erschien. Es hatte jedoch nicht nur nichts genützt, sondern seinen Leib ungewöhnlich aufgetrieben.
Doktor Seip untersuchte Leibniz gründlich.
„Ich leugne nicht, daß ich für Sie ein wenig fürchte. Der Puls ist ungemein schwach und der Schweiß bricht an den Händen aus“, meinte Doktor Seip kopfschüttelnd.
„Mir ist ganz wohl, lieber Doktor. Bleiben Sie bei mir zum Abendessen. Dieses Auslassen des Pulses und den Angstschweiß an den Händen habe ich seit früher Jugend nach jeder stärkeren Erschütterung.“ Leibniz stand auf und ging im Zimmer auf und nieder. „Übrigens“, setzte er fort, „habe ich für diese Zustände alterprobte Medikamente.“
„Ich möchte sie sehen“, erwiderte Seip.
Leibniz ließ die Arzneien durch den Diener aus der Hausapotheke holen. Seip prüfte sie. Dann sagte er:
„Diese Medikamente mögen manchmal gut gewesen sein. Für Ihren heutigen Zustand, Herr Reichshofrat, sind sie untauglich und schädlich. Ich werde selbst in die Apotheke gehen und dort die geeigneten Arzneien zubereiten.“
„Muß das gleich sein? Mir ist wirklich wohl, Doktor Seip. Ich möchte ein wenig plaudern. Nicht mit dem Arzt. Sondern mit dem klugen und lieben Freund.“
Doktor Seip nickte. Er wollte Leibniz nicht beunruhigen. Und es war schließlich nicht so gefährlich, wenn er für eine halbe Stunde nachgab. Der Anfall klang sichtlich ab. Und würde sich hoffentlich nicht wiederholen.
Leibniz war sehr munter und gesprächig wie alle Willensmenschen, die soeben große Schmerzen überwunden haben. Und es war fast eine volle Stunde oder noch längere Zeit verstrichen, als Doktor Seip endlich erklärte, er müsse jetzt die Arzneien besorgen gehen.
Leibniz begleitete ihn bis zur Tür und gab in aller Ruhe Anweisungen für das Abendessen. Dann kehrte er in den Lehnstuhl zurück.
Er war anscheinend eingeschlummert, denn plötzlich fuhr er, von einem gräßlichen Schmerz erweckt, auf. Und er fühlte, daß dieser Anfall den ersten an Heftigkeit noch bedeutend übertraf. Eccard und der Diener kamen nach kurzer Zeit ins Zimmer. Leibniz ersuchte, man möge ihm behilflich sein. Er müsse sich sofort zu Bett legen.
Nach einer halben Stunde hatte der Schmerz nachgelassen. Leibniz aber wußte plötzlich mit aller unentrinnbaren Deutlichkeit, daß der Tod knapp neben seinem Lager stand. Es war Weder Furcht noch Zaghaftigkeit in ihm. Nur ein Spruch leuchtete in riesengroßen Buchstaben unvermittelt vor ihm auf und nahm von seinem ganzen Denken Besitz. Jene letzten Worte des großen Papstes Gregor des Siebenten, des Papstes Canossas, des mächtigen Hildebrand:
„Dilexi justitiam et odi iniquitatem, propterea morior in exilio!“ „Ich liebte die Gerechtigkeit, ich haßte alle Unbill, deshalb sterbe ich in der Verbannung!“
Warum dieses furchtbare „propterea“? Warum nicht „tamquam“? Warum „deshalb“ und nicht „gleichwohl“? War das ein Gesetz des Universums? War das die Widerlegung der „besten Welt“? War dieses furchtbare „propterea“ die letzte tiefste Anklage gegen den sittlichen Kosmos, gegen Gott selbst? Nein, nein, nein! Keine Anklage gegen Gott. Nur eine Anklage gegen die Unvollkommenheit der Menschen. Die Menschen vergelten ein Leben der Gerechtigkeit mit Verbannung. Niemals Gott. Gott wird den auf Erden Verbannten erhöhen, wird ihn an die Seite seines Throns stellen, ihn des Lichtes teilhaftig werden lassen. Aber selbst wenn Gott ihn nicht erhöhte, selbst dann streitet dieses „propterea“ noch nicht gegen die „beste Welt“. In stetigem Ansteigen, dem Gesetz der Kontinuität folgend, wird eine vollkommenere Monade sich über die andre türmen, Wird schließlich in die leuchtende Spitze münden. Denn eben das Unglaubliche, daß trotz dieses „propterea“, trotz dieser furchtbarsten aller Warnungen, stets wieder und wieder Menschen die Gerechtigkeit auf sich nehmen und die Unbill hassen, um sehenden Auges in der Verbannung zu sterben, zeigt, daß alle Gegenwart der Unvollkommenheit alle Zukunft der Vollendung in ihrem Schoße trägt. Denn dieser Mut um der Gerechtigkeit willen ist das tiefste Wissen der menschlichen Kreatur . . .
Leibniz richtete sich auf seinem Lager auf. Er verlangte Tinte Feder und Papier. Und eine brennende Kerze. Er wollte die Widerlegung seines letzten Zweifels niederschreiben, bevor der Arzt zurückkam. Und er schrieb und schrieb und sein Gesicht bedeckte sich mit Schweißperlen. Als er aber das Geschriebene durchlesen wollte, waren es krause unverständliche Hieroglyphen.
Da sank er zurück.
Eccard fragte ihn, ob er ihm mit irgend etwas dienlich sein könnte. Die Tränen liefen dabei über seine Wangen, da auch er das Unabänderliche sah. Doch Leibniz lächelte plötzlich. Es war ihm wieder gewesen, als ob ihn die Hand Charlottens berührt hätte.
„Auch andre müssen sterben, Eccard“, sagte er klar und hell. „Und ich habe mich dem allgemeinen Schicksal nie und nimmer entzogen.“
Er kehrte sich ruhig, fast heiter gegen die Wand und schloß die Augen.
Als Doktor Seip mit den Arzneien zurückkam, war Leibniz bereits tot.
Seinem Sarge aber folgte niemand außer Eccard, obgleich alle Würdenträger Hannovers in streng zeremonieller Art zum Begräbnisse eingeladen worden waren. Keiner dieser „Edelleute“ hatte es gewagt, einem der größten Deutschen, einem der Größten aller Zeiten und aller Völker die letzte Ehre auf Erden zu geben. -


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