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Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 305c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


59. Rechenschaft im Morgengrauen

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Fast vierzehn Jahre später erwachte Leibniz aus einem die Wirklichkeit jenes merkwürdigen Maskenfestes in all seinen Einzelheiten wiederholenden Traum. Noch fühlte er die Hand Charlottes, noch sah er den Ausdruck ihrer hingegebenen, gleichwohl aber forschend zweifelnden Augen, als er schon mit furchtbarem Schmerz und grausamer Klarheit wußte, daß dieser in fahles Morgenlicht getauchte Raum, in dem er erwacht war, seiner Wohnung im Federlhof zu Wien angehörte.
Er zitterte an allen Gliedern, und nur der äußerste Wille machte es ihm möglich, die heraufquellenden Tränen zu unterdrücken. Sollte er versuchen, wieder einzuschlafen, um vielleicht noch einmal in diese Augen zu sehen, diese kühle, schmale Hand zu fühlen?
Nein, es war hoffnungslos, war unabänderlich verloren. Auch der Traum. Es war ja kein Traum gewesen. So kann man nicht träumen. Charlotte war wirklich bei mir, jetzt, vor einigen Minuten. Sie war bei mir. Und ich mußte wahrscheinlich erwachen, da die Gesetze des Reiches, in dem sie jetzt weilt, es so verlangen. Warum aber hat es neun Jahre gedauert, bis sie kam? Ist das dort oben eine Sekunde?
Ich werde nichts mehr denken, werde mich ankleiden, werde die kühle Morgenluft ins Zimmer lassen; Ich will frösteln. Ich will kein behaglicher, in Kissen gebetteter Lebendiger sein, während ich noch den Druck der Hand einer Toten fühle.
Eine sonderbare Stimmung da draußen. Es dürfte vier Uhr morgens sein. Schmale und streifige graue Wolken liegen parallel übereinander. Und dazwischen leuchtet es in kaltem Violett. Und der sechs Stockwerke hohe Turmbau jenseits des Hofes ist schwarz und düster wie alle die Dächer, Türme und Zinnen, zu denen meine Aussicht reicht.
Nein, Charlotte, ich habe es nicht überwunden, daß du uns in blühender Jugend verließest. Immer war der Schmerz bei mir seit jenem unheilvollen Februartag des Jahres 1705. Und immer das Bewußtsein, daß ich mit dir eine der größten Glückseligkeiten der Welt verlor, die ich mir vernünftigerweise für mein ganzes Leben hatte versprechen dürfen.
Bist du jetzt wieder aus diesem Zimmer dorthin zurückgekehrt, wo sich plötzlich rote Feuerzungen und sonderbar helle Flecken über das Gewölk schieben?
Doch wozu frage ich? Wozu will ich mit menschlichen Bildern, mit körperlichen Vorstellungen an das Ur-Mysterium rühren? Du warst Weiser, Königin, warst philosophischer, sokratischer als ich; warst gefestigter, als du an jenem Unheilstag ruhig und ohne Zagen alles auf dich nahmst, wovor ich, der Achtundsechzigjährige, zittere. Du wußtest alles, überblicktest alles. Denn du hattest zugleich den Genius eines großen Mannes und das Wissen eines Gelehrten. Warst Mitschöpferin, tätige Helferin am einzigen großen Werk, das bisher von mir in die Welt gelangte und die Hälfte dieser Welt bereits eroberte. Die Theodicée ist auch dein Werk, Charlotte.
Und du hast das Werk stärker, unumstößlicher bewiesen als der Mann, unter dessen Namen es die Gemüter bezwang. Und hast mir, mir vor allen anderen Menschen, eine Treue gehalten, wie sie kaum je einem irdischen bewiesen wurde.
Schon damals, als du im Jahre 1701 die rauschenden Krönungsfeiern flohest, die deinen prunkliebenden Gatten so sehr entzückten. Welche Königin bisher, noch dazu eine Königin, deren Titel erst wenige Tage alt war, hat es gewagt, einem Philosophen klar und ohne Abschwächung zu schreiben: „Glauben Sie nicht, mein Leibniz, daß ich diese Größe und diese Kronen, von denen man hier so viel Aufhebens macht, den philosophischen Unterhaltungen vorziehe, die wir im Schloß Lützenburg gehabt haben.“ Nein, Charlotte, ich verstehe es voll. Kein Verrat an der Majestät, an der irdischen Höhe. Nur ein unbedingtes Bekenntnis zur übergeordneten Majestät der Weisheit und zum zufälligen Hohepriester dieser Weisheit, zu mir. Niemand, auch keine Folter, wird mir diesen Brief entwinden können. Obgleich sie überall deine herrlichen Briefe aufstöbern und verbrennen. Um das preußische Königshaus nicht zu „kompromittieren“. Dankbar werden mir spätere Könige sein, Wenn sie diesen innersten Adelsbrief ihres Geschlechtes werden vorweisen können. Und der Tag ist vielleicht näher als man glaubt, da sich ein König auf solchen Geist berufen wird.
Das größte Beispiel aber hast du gegeben, als in deinen letzten Minuten eine Dame deines Gefolges an deinem Sterbelager in Tränen zerfloß. Ich höre deine Worte, höre sie durch die kalte Morgenluft herüberklingen, obgleich ein tückischer Zufall es Wollte, daß ich dich auf deiner letzten Reise nach Hannover nicht begleitete sondern in Berlin blieb. „Ich bleibe in Hannover, bis Sie nachkommen können. Ich muß diese Trennungswochen Wohl oder übel überleben“, sagtest du damals beim Abschied ein wenig ironisch. Oder war es nicht ironisch, sondern bloß die Angst vor einer Herzlichkeit, die wir beide stets durch leisen Spott ertöten [sic!] mußten? Mußten Wir es Wirklich? Vielleicht. Es ist aber nicht die Frage, was Wir mußten, sondern was wir taten. Und dieser beinahe jenseitig durchwitterte Ton heroischen Distanzhaltens hat dich auch im Sterben nicht verlassen, als du mir die letzte Botschaft sandtest und als du zum Weinenden Fräulein deines Gefolges sagtest: „Beklagen Sie mich nicht, denn ich gehe jetzt meine Neugier befriedigen über die Urgründe der Dinge, die mir selbst mein Leibniz nie hat erklären können: über den Raum, das Unendliche, das Sein und das Nichts; und dem König, meinem Gemahl, bereite ich das Schauspiel eines Leichenbegängnisses, das ihm neue Gelegenheit gibt, seine Pracht darzutun.“
Und du sprachst dann noch einige Worte zum Kurfürsten Georg, zum kalten, harten Bruder. Und empfahlst ihm noch „alle Gelehrten, die du stets begünstigt hattest“. Und ließest dir versprechen, daß er dir diesen letzten Wunsch erfülle.
Wenn man mir recht berichtet hat, gab dir Georg dieses Versprechen. Aber sein Antlitz soll dabei nicht bloß aus Schmerz über deinen Tod gezuckt haben. Vielleicht war eine Rückerinnerung an jenen Auftritt im Park von Herrenhausen in ihm für Augenblicke unheildrohend aufgestiegen.
Ich bin dir aber Rechenschaft schuldig, Charlotte. Ich weiß ja nicht, Wie die Gesetze lauten, denen du jetzt unterstehst. Und weiß nicht, ob auch den seligen Toten die Gabe des Allwissens und der Allgegenwart verliehen ist. Vielleicht, wenn ihr dort oben euch zum Schlummer legt, sobald wir erwachen, kann ich dir jetzt im Traum erscheinen. Und ich will dir nicht von meinem Schmerz um dich erzählen. Denn es könnte dich kränken. Könnte dir sogar den Eindruck zaghaften Gottzweifels erwecken. Deshalb sage ich dir nur noch, daß ich ein einziges Mal in meinem Leben durch einen Schmerz, der mich persönlich traf, an den Rand einer schweren Krankheit geriet. Daß ich ein einziges Mal für Monate die Welt als sinnlos von mir warf und jede Arbeit, jeden Vorwärtsdrang haßte. Und daß diese Monate zeitlich und ursächlich deinem Tode folgten.
Ich habe viele, fast alle Menschen verloren, die mir nahestanden. Tschirnhaus lebt nicht mehr, Hospital ist, wenig über vierzig jahre alt, gestorben. Und auch Jakob Bernoulli ruht unter einem Grabstein von all den, Mühen und Ekstasen aus, die er schon auf Erden gleichsam aus dem jenseits zu uns brachte.
Aber genug der Totenklage. Ich wollte dir über den Zwischenraum des Unerforschlichen nur hinüberrufen, daß alles, was ich im Leben wirklich liebte, was mir diesseitiges Glück bedeutete, du, mein mystisches Kind warst. Und daß ich es vor aller Welt bekannte und bekenne, daß die Welt durch deinen Tod einen echten und allgemein gültigen Verlust erlitt. Nicht nur an Schönheit und Holdseligkeit, sondern an wirklichem Fortschritt der Weisheit und der Urtiefe. Und daß ich deshalb fast gegen Gott mich aufbäumte, weil er es nicht zuließ, daß du in der Geschichte der Wissenschaft deinen verdienten Platz erobertest. Nicht als schöngeistige Förderin von Gelehrten. Sondern als die aus sich selbst gewachsene Philosophin Deutschlands. Als die Philosophin Charlotte von Preußen. Und nur der Gedanke, daß du Kinder gebarst, kann mich trösten. Denn Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß will vielleicht in der von ihm gewählten Stunde deinen Geist in deinen Kindern oder Enkeln zur Vollendung treiben.
Das mußte ich dir sagen, bevor ich Rechenschaft ablegte. Wir haben große Kriege erlebt hier unten. Und du weißt es noch von deinen irdischen Tagen, daß ich mit aller Kraft meines Geistes für Deutschland und den Kaiser stritt, daß ich das große Manifest über die spanische Erbfolge verfaßte, das die siegreichen Heere Prinz Eugens und Marlboroughs auf festem Rechtsboden fechten ließ.
Aber ich habe nicht nur in Kriegshändel eingegriffen. All das, was wir gemeinsam planten, habe ich als Testamentsvollstrecker deines Willens mit dreifachem Eifer vollendet. Ich sagte dir schon, daß unsre Theodicée als Denkmal unsrer Tatgemeinschaft die Gemüter Europas eroberte. Und daß sie daran ist, die Anhänger des leider auch schon toten Peter Bayle und des gefährlichen Freigeistes Toland aus dem Felde zu schlagen. Aber auch unsre Akademie habe ich ausgebaut und erweitert. Und habe versucht, ihr Einnahmequellen zu verschaffen. Du lächelst, Charlotte. Lächelst jetzt über diese Versuche. Kalender als die„Bibliothek des gemeinen Mannes“ wurden gedruckt, um ihren Erlös für die Sozietät herzugeben. Dann habe ich Lotterien vorgeschlagen. Und endlich habe ich ein Privileg für die Zucht von Seidenraupen erwirkt, die in den Gärten von Potsdam und Köpenick sich an neugepflanzten weißen Maulbeerbäumen gütlich tun sollten. Seidenraupen als Unterstützer unsrer Sozietät? Du hast recht, daß du lächelst, Charlotte!
Zwischen all meinen Bestrebungen aber hat mich ein kalter Befehl des Kurfürsten stets wieder zur Arbeit an der Geschichte Hannovers und Braunschweigs zurückgerufen. Oh, er hält das Versprechen, das er dir auf dem Totenbett gab! Er fördert meine Wissenschaften. Und wie er sie fördert! Er zeigt geradezu rührende Sorge, ich könnte durch Extravaganzen mein Hauptgebiet vernachlässigen. Nämlich die Geschichte. Denn er weiß genau, daß ich nur durch die „Testimonia“ zu lähmen bin. Freunde und Intriganten haben ihn über die Unerbittlichkeit aufgeklärt, mit der diese Geschichte meine Kraft verzehren muß. Und er hat ein stichhaltiges Argument. Es wäre, meint er, kaum im Interesse des Welfenhauses, wenn ich mich weiter allzusehr etwa in die Mathematik vertiefte. Denn ganz England ist eben wegen dieser, meiner Mathematik in Aufruhr. Seit mehr als fünfzehn Jahren tobt ja der Prioritätsstreit mit dem Stolz Englands, mit Newton. Und er wird tückisch geführt von drüben. Und nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch. Man darf die Königin Anna von England nicht noch weiter verstimmen. Sie soll ohnedies die Absicht hegen, die Sukzessionsakte aufzuheben, die die Rechtsgrundlage für die Nachfolge Hannovers, besser, der Kurfürstin Sophie bildet, falls Anna kinderlos stirbt. Sie wird aber kinderlos sterben. Denn sie ist schon alt und kränkelt. Also Hand weg von der Mathematik, Leibniz! Newton hat nach Fatio, nach jenem unseligen Genius und Narren, der wegen verworrener Umtriebe auf den Pranger kam und darauf den Verstand verlor, Herrn Keill als Angreifer vorgeschoben. Er, Newton, befleckt sich nicht mit solch niederen Handeln, wie es der Streit um die erste Entdeckung des Infinitesimalkalküls ist. Und als ich mich zur Wehr setzte, hat man mich absichtlich mißverstanden und so getan, als ob ich die englische Sozietät der Wissenschaften, deren Mitglieder sowohl Keill als ich sind, zum Schiedsrichter anriefe. Und hat einen Senat, in dem die Mehrheit von Leuten gebildet wurde, denen das Integralzeichen nie zu Gesicht gekommen ist, gebildet und mich in aller Form als Plagiator verurteilt. Während Newton sich irgendwo abseits die Hände in Wohlanständigkeit wusch. Und ein Buch, das „Commercium Epistolicum“, der „Brief-Streit“, eine Sammlung der „niederschmetternden“ Dokumente, zirkuliert jetzt trotz wütenden Protestes der Mathematiker Frankreichs und Italiens in ganz Europa. Und bringt allen Laien die Überzeugung bei, ich hätte seinerzeit womöglich die Anagrarnme Newtons entziffert und hierauf mein Kalkül der Newton‘schen Entdeckung nachgebildet. Und ich bin fast wehrlos. Denn Tschirnhaus, der Hauptzeuge, ist tot. Und von der großen Garde, die mir stets an die Seite trat, fehlen Jakob Bernoulli und Hospital, während der Letzte, Johann Bernoulli, zwar in Privatbriefen Newton verhöhnt und nachweist, der englische Halbgott verstehe nicht einmal die Berechnung höherer Differentialquotienten; ja, er lasse seine falschen Rechnungen nicht nur einmal, sondern wiederholt drucken: dann aber, wenn ich ihn auffordere, mir zu sekundieren, plötzlich tausend Bedenken hervorsucht und behauptet, er wolle sich nicht mit der schwarzen Galle des Herrn Keill einseifen lassen. Warum Johann Bernoulli sich vor den Engländern so sehr fürchtet, ist mir unklar. Aber der Charakter war ja nie die Hauptstärke dieser genialen Basler Pfahlbürger, deren Person die Geistesgeschichte eher um eine Groteske als um ein erhebendes Beispiel bereicherte.
Ganz unklar aber bleibt es mir, wie ernste Männer - und in der Jury saßen schließlich auch Taylor und De Moivre - annehmen können, ich wäre imstande gewesen, die rätselhaften Anagramme Newtons an sage und schreibe einem einzigen Tage zu entziffern. Denn die Antwort mit meinem Algorithmus ging ja schon am gleichen Tage ab.
Kurz, ich bin für die Welt heute eine zumindest zweifelhafte Erscheinung auf mathematischem Gebiet. Daran ändert auch die Sturzflut von Titeln nichts, die ich schon trage. Ich bin Geheimer Justizrat Hannovers, Preußens, Rußlands, bin Reichshofrat des Deutschen Reiches, bin Mitglied, Gründer oder Präsident der Sozietäten und Akademien von London, Paris, Berlin, Dresden, Rom und St. Petersburg. Ich habe in Wien freien Zutritt zu den Privatgemächern Karls VI., ohne mich vorher anmelden zu müssen. Ich bin beauftragt, Rußland zu europäisieren. Mit Peter dem Großen traf ich in Torgau und Karlsbad zusammen, wo wir wie Freunde sprachen. Ich habe die neue Gesetzgebung Rußlands zu entwerfen. Ich war Berater Karls XII von Schweden. Es hat genügt, daß einige verbreiteten, ich sei Katholik geworden, um Kronprinzen zur Nachahmung zu veranlassen. Ich halte heute fast alle Fäden der europäischen Politik in meiner Hand. Und das Sonderbarste: Niemand mißtraut dem „Plagiator“. Selbst Ludwig XIV., den ich ein Leben lang bekämpfe, und der davon weiß, ist jederzeit bereit, mir in Paris eine Heimstätte zu gewähren. Nur zwei Instanzen ballen sich zu stets größerer Feindschaft gegen mich zusammen. Die Freigeister und Vernunft-Philosophen Englands, die angeblich das Volk in neuartigen Orden, ähnlich den Rosenkreuzern, zusammenzufassen beginnen. Und auf der anderen Seite ein wahrscheinlich von Frankreich beeinflußter Flügel unduldsamer Katholiken. Beides wegen der Theodicée. Für die Freigeister ist dieses Werk ein natürlicher Stein des Anstoßes, denn es ist ja direkt gegen sie gerichtet. Für die Fanatiker des Katholizismus aber ist es unfaßlich, daß ich jeder Bekehrung Widerstand leiste, obgleich meine Theodicée doch beinahe als katholisches Bekenntnis angesehen Werden kann. Zumindest aber als ein Werk, das dem Katholizismus nicht widerstreitet.
Wie stets ist eine vermittelnde Haltung, die dem Guten das Gute läßt, für alle Eiferer, in Welchem Lager auch immer sie stehen mögen, unbegreiflich.
Und es wird besonders übel vermerkt, daß ich in Wien die katholischen Predigten besuche, als ob man solches einem der Anreger der Wiedervereinigung vorwerfen könnte. Aber auch die Union aller Protestanten, die leider ebenso gescheitert ist wie die ersten Unionsversuche zwischen Protestanten und Katholiken, ist selbst heute noch manchen Katholiken verdächtig, da sie in der Zusammenfassung aller Evangelischen nur eine Vorbereitung eines ins Riesenhafte vergrößerten Dreißigjährigen Krieges sehen . . .
Aber das Wesentlichste habe ich noch nicht berichtet, Charlotte. Nämlich das Grundmotiv all dieser Jahre. Ich irre umher, Charlotte. Und ich habe deinem harten Bruder Georg offen den Kampf angesagt. Vor zwei Jahren, als ich wiederum einmal in geheimster Mission nach Dresden gefahren War, hat man mich in Hannover zurückerwartet. Ich aber fragte weder den Kurfürsten noch den Minister Bernstorf und ging auf eigene Faust nach Wien. Man lächelt in Hannover nach außen verlegen. Obgleich man innerlich schäumt. Und der kalte Kurfürst Georg wird vor lauter Haß Witzig. Er hat gesagt, als ein Trommler durch Hannover ging und das verlaufene Schoßhündchen einer einflußreichen Hofdame austrommelte: „Jetzt muß ich Wohl bald meinen Leibniz austrommeln lassen, um zu erfahren, Wo er eigentlich steckt.“
Dieser plötzliche Esprit Georgs täuscht mich jedoch nicht. Denn zwischen uns entscheidet, so gräßlich es klingt, ein Wettlauf mit dem Tode.
Deine Mutter, Charlotte, ist vierundachtzig Jahre alt. Sie ist so frisch und munter, daß die Engländer sie die „junge Prinzeß Sophie“ getauft haben. Und Anna kann jeden Tag sterben. Dann aber wird die große Sophie Königin von England. Und ich bin zum ersten Ratgeber dieser künftigen Königin heute schon erkoren. Georg wird nicht dabei sein. Vorläufig. Denn sein Betragen gegen die Mutter hat in dieser den Entschluß befestigt, ihn von der Thronfolge Englands auszuschließen und an seine Stelle den Kurprinzen, den Sohn der unglücklichen Dorothea, der Gefangenen von Ahlden, zu setzen. Und Georg weiß von diesem Entschluß. Kennt meine zukünftige Rolle. Und ist sich klar, daß ich auf diese Art auch gegen Newton zu meinem Recht kommen muß. Darum soll ich „ausgetrommelt“ werden. Vielleicht fällt der Wettlauf mit dem Tode gegen mich aus. Und es wäre Georg erwünscht, wenn ich nicht auf fremden Boden die Entscheidung abwartete, um dann ungreifbar nach England zu entschlüpfen. Ich sollte vielmehr schon jetzt für alle Fälle die „Testimonia“ weiter sichten, sollte im Staub von Bibliotheken fronen, damit mein Kopf stumpf, mein Auge kurzsichtiger und mein von der Gicht geplagter Fuß noch untauglicher werde. Auch diesen Plan hat er schon in seiner neuen scherzhaften Art verraten. Als ich in Berlin zu lange ausblieb, hat er mir sagen lassen, man schätze mich mehr wegen des Kopfes als wegen des Fußes. Er glaubte mir damals nicht, daß mich ein Sturz ans Krankenlager fesselte, und sandte mir sogar auf Schleichwegen einen Arzt zur Untersuchung. Heute aber ist er sehr ohnmächtig. Der Wettlauf mit dem Tode ist noch nicht zu Ende. Und Karl VI und seine Gemahlin, die ja auch aus dem Welfenhause stammt, haben das Recht und die Macht, den „Reichshofrat“ Leibniz wegen der Friedensschlüsse im spanischen Erbfolgekrieg in Wien festzuhalten . . .
Aber es wird jetzt Tag, Charlotte. Und ich habe dir Rechenschaft abgelegt. Viel, viel wäre noch zu sagen. Denn diese neun Jahre unsrer bisherigen Trennung waren weit erfüllter als es auch im flüchtigsten Abriß zwei Stunden fassen können. Du wirst mich aber wie stets auch aus Andeutungen verstehen. Wieder muß ich mich von dir trennen, Charlotte. Wieder und wieder. Aber ich werde stets zu dir zurückkehren, bis einst auch für mich die Stunde kommt, da wir für ewig vereint sein werden.
Jetzt aber, da schon klares Tageslicht es uns verbietet, weiter durch die Dämmerungen mystischer Zwischenreiche einander geistig zu berühren, muß ich dem Tage geben, was des Tages ist.
Prinz Eugen von Savoyen, mein Freund und Mitstreiter um Deutschlands Größe, mein Weggenosse im Ringen um höchsten Fortschritt der Weisheit, erwartet mich. Und ich habe noch einige Blätter zu schreiben, die ich ihm überreichen will.


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