Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 300c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


54. Die Große Gesandtschaft[editar]

Plötzlich, wie aus dem Nichts emporgetaucht, griff ein riesiger Schatten aus dem Osten her über Europa. Leibniz hatte ihn schon seit langem gesehen. Aber dieses neue Problem des Weltteils kam den Herrschern und den Völkern erst zum Bewußtsein, als die Große Gesandtschaft durch Monate fast den einzigen Gesprächsstoff der Eingeweihten und der Abseitsstehenden bildete.
Leibniz hatte sich eben angekleidet. Er hatte nur vier Stunden geschlafen. Aber er wollte den Eindruck, den die Fremden machen würden, um keinen Preis Versäumen. Und er hatte von sich aus, zusammen mit Grote, einen förmlichen Überwachungsdienst eingerichtet, damit ihnen die Gesandtschaft nicht gleichsam durch die Finger glitt. Man wußte nämlich so recht eigentlich gar nichts. Alles, was man wußte, war „angeblich“. Eine Kavalkade von angeblich 270 Russen sollte sich angeblich heute schon auf hannöverschem Gebiet befinden. Ebenso angeblich wurde die Gesandtschaft von Admiral Lefort, Wojwoden von Nowgorod, von Generalkriegskommissär Fedor Alexejewitsch Golowin, Wojwoden von Sibirien, und vom Geheimen Kanzler und Wojwoden von Bolchow, Prokofii Bogdanowitsch Wosnizyn geführt. Zweiundzwanzig Kavaliere, sieben Kanzleibeamte, fünf Dolmetscher, einen Arzt, achtundsechzig Offiziere und Soldaten, Kaufleute, Lustigmacher, Heiducken, Kalmücken und Zwerge hatte irgendwer in Ostpreußen festgestellt. Aber auch das war nur angeblich. Denn die Gesandtschaft teilte sich oft in mehrere Teile, und man wußte dann erst recht nicht, ob man den Teil der Kavalkade vor sich hatte, bei dem sich Zar Peter selbst befand. Obgleich es nämlich geleugnet wurde, obgleich man es offiziell nicht einmal aussprechen durfte, wußte wieder ganz Europa, daß Zar Peter die Gesandtschaft begleitete. Er war bisher gewöhnlich als jüngeres Gesandtschaftsmitglied unter dem Namen Peter Michailowitsch aufgetreten, hatte aber auch noch durch andre Maskierungen überrascht. So hatte er einmal als Unteroffizier Gawrilo Kobylin mit zehn Soldaten das Gefolge verlassen, ein andresmal wieder hatte er den Spaßmacher gespielt. Man konnte ihn einfach nicht fassen. Denn er war wohl einer der seltsamsten Herrscher, die bisher die Geschichte hervorgebracht hatte: Soldat, Handwerker, Bauer, Edelmann, Charmeur, Wüstling, Wahnsinniger, Europäer, Asiate, Jüngling, Greis, Philosoph, Gelehrter, Ekstatiker, Spieler, Jäger, Gaukler, Matrose: alles nacheinander und durcheinander. Und man wußte nicht einmal, wie er aussah. Ununterbrochen wechselte er die Tracht, verkroch sich, schlief auf dem Fußboden und in Dachkammern, kochte für sich selbst und für andre, erlernte jedes Handwerk in wenigen Augenblicken und war von einer geradezu unbändigen Neugierde besessen, die das Gefüge jeder Ordnung in den Staaten lockerte, durch die er zog.
Mit unfehlbarer Ahnung wußte Leibniz, als er auf die Straße eilte, um den Einzug der Gesandtschaft als unbeteiligter Spaziergänger zu beobachten, daß er in Peter nicht einen Sonderling, nicht eine Einzelerscheinung, sondern eben Rußland selbst vor sich hatte. Die blasierten Hofleute und Damen mochten scherzen und höhnen, so viel sie wollten. Mochten auch wieder mit geheimem Prickel das Schauspiel dieser bunten Kavalkade bewundern. Mochten denken und grübeln, deuten und auslegen. All das Geschwätz traf nicht den Kern. Irgend eine Urkraft, eine noch gar nicht begriffene Welt war in eine zweite Welt, in eine satte, hochmütige Verstandeswelt, eingebrochen. Und es war kein Zufall, daß gerade Leeuwenhoek viele Stunden lang dem Zaren seine Mikroskope gezeigt und wie es hieß ihm seine neueste Entdeckung, den Blutkreislauf, an den Flossen lebender Fische demonstriert hatte. Die irrationale Welt hatte sich in dieser Begegnung verbrüdert, die der rationalen eines Spinoza oder eines anderen Aufklärers entgegentrat.
Vor allem, und das war beinahe erheiternd, ging das Chaotische dieser Gesandtschaft oder halben Gesandtschaft so weit, daß nicht einmal der Kurfürst Ernst August wußte, ob es der Kavalkade belieben würde, in Hannover haltzumachen. Daß man sich unklar darüber war, wen man eigentlich vor sich hatte, war man in Europa nun schon gewohnt. Aber daß man keinerlei Disposition erfuhr, bereitete selbst Grote einige zeremonielle Schwierigkeiten.
Nach all dem war nun Leibniz durchaus nicht überrascht, als er das Mirakel sah, bevor er es noch erwartet hatte. Mitten durch ein fast lebensgefährliches Volksgedränge kam der Aufzug daher. Und blendete an diesem wolkenlosen Sommermorgen die Augen.
Pferde, merkwürdig klein und scheu, mit struppigen Haaren und langen Schwänzen. Mit ungewohntestem Zaumzeug aus grellrotem Saffianleder, an dem Edelsteine in allen Farben funkelten. Die Reiter in langen, verwirrend farbigen Kaftanen. Weiß, rot, blau, grün. Uber und über mit Perlen und Edelsteinen bestickt. Fußhohe Pelzmützen aus hellbraunem Zobel, aus Biber oder schwarzem Astrachan. Krumme Säbel und unwahrscheinlich lange Lanzen. Kalmücken mit Bogen und Köchern. Plötzlich dazwischen Soldaten in neuester Bewaffnung und gedrillter Haltung. Mißgeburten von Zwergen. Jahrmarktsharlekine. Eine vergoldete Kanone, deren Räder mit Malachit besetzt waren, und die offensichtlich trotzdem kein Spielzeug war. Einige Reiter sangen dumpfe Lieder, die von monotoner Traurigkeit sich plötzlich zu schreckenerregenden Angriffsrhythmen verwandelten und in wilden, tierischen Schreien endigten, um gleich darauf wieder beinahe die Stimmung heiliger Choräle zurückzugewinnen. Und auch die Spannung zwischen der Tiefe der Bässe und der Höhe der Tenöre war ungewöhnlich. Ebenso ungewöhnlich wie das unvermittelt losbrechende herausfordernde Trompetengeschmetter, das gurgelnde Klimpern von Balalaiken und das bis zu einer Art von Tobsucht vorstoßende Wirbeln der Trommeln.
Mit geröteten Gesichtern, mitgerissen und verdonnert, starrten die Bewohner Hannovers den tollen Spuk an, sahen in die Gesichter unter den Pelzmützen, die in allen Abtönungen - von hellstem Weiß bis zu tiefem Braun und glattem Gelb - vorüberzogen. Kleine, stechende, schwarze Augen. Schlitzaugen. Große, blaue, verträumte, strahlende Augen. Es gab alles. Gab Hünen, gab winzige Kerle mit Säbelbeinen, gab untersetzte, wohlproportionierte Reiter von klassischem Bau der Gestalt und von klassischer Bewegung.
In Leibniz aber formte sich wie eine riesige Zusammenschau das Bild Rußlands und verband sich mit dem Zaren aller Reußen zu untrennbarer Einheit. jenes Zaren, der vielleicht einer von den Russen war, die übersät mit Perlen, Rubinen, Smaragden, Karfunkeln, mit edelsteinstrotzenden Waffen dort vorbeiritten; wenn er es nicht vorgezogen hatte, irgendwo als Soldat in einer Schenke der Umgebung zu gröhlen und die Mägde zu belästigen oder tiefernst bei einem Mechanikus zu stehen und ihm die letzten Geheimnisse seines Handwerks abzugucken. Diese Einheit, die Leibniz sah, während noch die Hufe vor ihm klapperten und all die wilden Geräusche tönten, war so körperlich, daß das gegenwärtige Spektakel beinahe verblaßte. Dafür erblickte er endlose Wälder, eiskalte Steppen, riesige Ebenen, blühende Dörfer. Erblickte Städte mit Zwiebelkuppeln und Zwiebeltürmen in seltsam überladener Pracht. Strelitzenhorden, Kosakenheere. Aufstände in Städten, die ganz aus Holz erbaut waren. Furchtbare Grausamkeiten. Dreitausend gefangene Strelitzen, Kerntruppen, die stets wieder von irrsinnsnahen, machttrunkenen Vätern, Brüdern, Neffen der Dynastie, von revoltierenden Wojwoden und Großfürsten gegeneinander und aufeinander gehetzt wurden, marschieren, dumpfe Lieder singend, je zwei nebeneinander, zur Richtstatt. Jedes dieser aneinandergeketteten Paare trägt Block und Richtschwert. Sie werden sich vorher, bevor diese Instrumente auf sie Anwendung finden, noch die Gräber schaufeln. Und sie sind fast heiter. Man wird sie nicht foltern, nicht langsam braten oder spießen. Und es wird wieder Kurzweil und Frechheit geben bei der Hinrichtung. Hei, das war ein Spaß, als das Väterchen, Peter selbst, ein Richtschwert nahm und fünfzig Soldaten eigenhändig köpfte! Er kann es, bei Gott und beim doppelten Kreuz, er kann es. Und wie er es kann! Und da ist er dem wilden Wassili, der schon vor dem Block kniete, zu nahe gekommen, ist an ihn angestoßen. „Geh weg, Väterchen, dräng dich nicht! Hier ist mein Platz!“ hat ihn der Wassili angeschrien. Und der Zar und alle anderen Strelitzen, die vor den Blöcken knieten, haben gebrüllt vor Lachen. Und er hat dem Wassili, noch immer lachend, den Kopf abgehauen, daß das Schwert pfiff.
Nicht immer aber geht es so lustig her. Die besoffenen Aufrührer holen Großfürsten aus den Betten, reißen sie von den Altären, stöbern sie in Schlupfwinkeln auf, die ihnen von den Brüdern und Müttern der Gesuchten angegeben wurden. Und dann tränkt man es den feinen Bürschchen ein, die in Seidenbetten schlafen und nach Moschus oder nach anderen häßlichen Dingen riechen, die sie sich aus glitzernden Flaschen auf die Glieder gießen. Gut, man sauft diesen Blumenschnaps, daß man kotzt. Man muß aber dann die Bürschchen behandeln. Da hört der Spaß auf. Eine Folterkammer wird gestürmt. Und nun versucht man sich tagelang an den Zangen, Stricken, Schrauben. Und das Gebrüll der Bürschchen stört die Strelitzen schließlich so sehr, daß sie in Wut geraten, die Gefolterten auf den Platz vor die Kirche schleppen und sie dort langsam in Stücke hauen oder mit Pferden zerreißen. Oder sie aus Fenstern auf Spieße hinunterwerfen oder irgendwo anbinden und mit Pfeilen um eine Flasche Schnaps ein Wettschießen veranstalten, während die Brüder Balalaika spielen. Und man weiß nie, ob man recht getan hat oder unrecht. Die Zarinmutter sagt so, Peter so, der Wojwode anders. jeder ist ein Verräter. Und jeder schreit, daß er keiner ist.
Wie schön aber ist dann wieder das Osterfest mit den blauen Eiern. Alle Menschen lieben einander. Alle sind gut. Ich und du und jeder. Und die Kinder und Weiber sind toll vor Freude. Das Land muß bestellt werden. Die Erde ist schwarz und feucht und die Ströme schwellen an und schleppen noch Eisschollen, auf denen Raben sitzen. Hei, wir werden das Korn säen. Hei, der Ochse und das Pferd müssen gefüttert werden. Und der Strelitze wischt den Säbel ab und wirft ihn in die Rumpelkammer.
Väterchen Zar hat große Kriege gewonnen. Es gibt keine Revolten, es gibt keinen Krieg. Er baut Schiffe, die die Welt durchsegeln sollen. Alles kann er, der große Zar. Und sie küssen sein Bild, schlagen die Stirne auf die schwarze Erde und küssen die Ikonen der Muttergottes von Kasan.
Und er wird die ganze Welt erobern, der Zar. Es ist prophezeit. Michael Feodorowitsch, der Starost, hat es gesagt. Es ist also wahr. Und der Zar zieht mit einer Gesandtschaft durch die verrotteten westlichen Länder, die nicht einmal mit dem Türken fertig werden. Und es ist gesagt worden, daß alle Könige vor Schrecken auf das Gesicht fallen und die Erde küssen, wenn der Zar erscheint. Und daß ihm jede Stadt die Schlüssel gibt. Einen ganzen Wagen voll von Schlüsseln führt er schon mit sich, das Väterchen. Und wenn er zurückkehrt, wird er ein Heer sammeln, so groß, wie es noch niemand erblickte. Und wird alles niederrennen, was sich noch wehrt.
Was aber ist das? Michael Feodorowitsch ruft die Strelitzen, um Ordnung zu machen, bevor der Zar zurückkommt? Heraus also mit dem Säbel aus der Rumpelkammer! Einige Verräter müssen zerhauen werden. Wer kann wissen, ob der Zar nicht selbst ein Verräter ist? Sollen die Weiber die Felder bestellen. Sie werden zu Weihnachten Kinder gebären. Hei! Die Strelitzen aber müssen Ordnung machen . . .
Leibniz erschrak, als ein Offizier der Garde ihn leise ansprach.
„Gefallen Ihnen die Russen?“ erwiderte Leibniz aufblickend.
„Ein Fastnachtszug“, sagte der junge Edelmann wegwerfend.
„Eine gefährliche Fastnacht, Herr von Ditfurth!“ Leibniz schüttelte den Kopf. „Doch glaube ich, daß Sie mich ansprachen, um mir etwas mitzuteilen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrach.“
„Ich habe in der Tat eine Meldung zu erstatten. Und zwar eine dringende. Ich bin sehr froh, Sie gefunden zu haben, Geheimer Herr Justizrat. Ihre kurfürstliche Hoheit Sophie läßt nämlich bitten, ohne Verzug und ohne Rücksicht auf Kleidung in Sachen der Russen sofort bei ihr in Herrenhausen zu erscheinen. Mein Wagen wartet drüben in der Nebengasse.“
In Sachen der Russen? Sollte die Gesandtschaft in das Schloß einziehen? Wußte Sophie mehr als er selbst und Grote, der ihm noch vor einer halben Stunde hatte mitteilen lassen, die Russen würden ohne Aufenthalt Hannover durchreiten? Auf jeden Fall war ein neues Machtgefüge furchtbarster Spannkraft und Unberechenbarkeit in Europa eingebrochen. Es gab nur eine Möglichkeit der Abwehr. Dazu aber mußte man Einfluß auf die Russen gewinnen. Aber wie?
Doch wozu jetzt grübeln? Die Kurfürstin hatte ihn „in Sachen der Russen“ zu sich befohlen. Vielleicht ergab sich eine Möglichkeit, mit Lefort zu sprechen. Mit dem Führer der Gesandtschaft. Mit diesem rätselhaften Genfer, dem ersten und einflußreichsten Günstling und Freund Peters, konnte man sicherlich verhandeln. Obwohl auch er allen, die es bisher Versucht hatten, entglitten war. In einer Stunde werden wir mehr wissen.
„Gehen wir, Herr von Ditfurth“, sagte Leibniz, der noch nicht ganz in die Gegenwart zurückgefunden hatte.
Als er, kaum eine halbe Stunde später, den kleinen Salon der Kurfürstin Sophie betrat, kam ihm zu seiner höchsten Überraschung Kurfürstin Charlotte von Brandenburg lächelnd entgegen.
„Ich bleibe einige Wochen in Hannover“, sagte sie nach der Begrüßung. „Wir haben viele Probleme zu besprechen, Leibniz. Und ich habe außerdem gut zehntausend Fragen an Sie zu stellen. Aber jetzt kommen Sie schnell zu meiner Mutter. Sie müssen uns aus einer Verlegenheit helfen.“ Und sie öffnete eine Tür und ging in die Privatgemächer der Kurfürstin Sophie voran.
Leibniz folgte.
„Wann sind Sie eingetroffen, Hoheit?“ fragte er, noch immer erstaunt.
„Heute nacht“, erwiderte Charlotte.
„Sie hat uns beide überrascht“, fiel Kurfürstin Sophie ein, die in ihrem Boudoir in einem Fauteuil saß. Nachdem sich Leibniz verbeugt hatte, fuhr sie fort: „Guten Morgen, Leibniz! Setzen Sie sich einen Augenblick.“ Und sie wies auf einen Polsterstuhl.
Charlotte ging zum Fenster und blickte hinaus.
„Ich habe die Russen gesehen“, begann Leibniz, als er sich niedergelassen hatte.
Die Kurfürstin lachte unvermittelt auf.
„Eine nette Bande“, sagte sie dann etwas ernster. „Sie wissen ja, daß ich Sie wegen eben dieser Russen hierherbat.“
„Es wurde mir gemeldet.“
„Gut, daß man Sie so schnell fand. Nun hören Sie zuerst das Wichtigste. Wir haben Glück. Der berüchtigte Zar ist nicht dabei. Er hat mit einer anderen Kolonne Halberstadt beglückt, soll auf den Blocksberg gestiegen sein und ist jetzt schon auf dem Weg nach Wien. Ich bin, aufrichtig gesagt, froh, daß wir seine Anwesenheit mit Anstand vermeiden können.“
„Mir tut es leid, Hoheit“, erwiderte Leibniz. „Man hätte vielleicht mit ihm sprechen können.“
„Das können Sie besser mit Lefort. Der Zar ist nach meiner Ansicht ein Wahnsinniger, wenn ihm auch eine gewisse Genialität nicht abzusprechen ist. Wir lachen in einemfort über seine Streiche. Aber diese Stückchen sind leider sehr ernste Anzeichen für das, was Europa von ihm zu fürchten hat.“
„Ganz meine Ansicht, Hoheit.“
„Das freut mich, Leibniz. Und darum will ich, daß Sie mit Lefort sprechen.“
„Sind die Russen hier eingezogen? Ich sah im Schlosse nirgends eine Spur von ihnen.“
„Nein, sie sind dem Schloß im Bogen ausgewichen. Sie hatten nur einen Dolmetsch vorausgesandt, der mit uns verhandelte, noch bevor die Russen in Hannover ankamen. Sie sind trotz ihrer prahlerischen Pracht geradezu menschenscheu. Und sie baten, in einem möglichst abgelegenen Schloß für einen Tag rasten zu dürfen. Ich habe ihnen mein stilles Koppenbrügge zur Verfügung gestellt. Und Sie, Leibniz, müssen jetzt sofort hinaus nach Koppenbrügge. Der Wagen und sechs Gardisten mit einem Offizier warten bereits unten.“
Leibniz erhob sich, da die Kurfürstin ein wenig hastig gesprochen hatte. In diesem Augenblick drehte sich Charlotte um und konnte ihr Lachen kaum verhalten.
„Noch ein paar Anekdoten, Leibniz, bevor Sie zu diesen Monstren fahren“, sagte sie lächelnd. „Es ist fast unglaublich, was diese Menschen treiben.“ Und sie kam näher. Dann setzte sie fort: „Von ihren Festlichkeiten und Gelagen spreche ich lieber nicht. Die sind beispiellos. Die übliche Zecherei des Zaren mit Lefort pflegt ununterbrochen drei Tage und drei Nächte zu dauern. Dabei legen die Wüsten Gesellen nicht einmal in den Nächten die Kleider ab, sondern schlafen zwischendurch irgendwo auf dem Boden oder auf einem Sofa. Daß sämtliche Gläser zerschlagen werden, ist klar. Es ist auch selbstverständlich, daß man ab und zu mit scharfen Waffen ficht und daß ein paar Leute dabei verletzt werden. Gewöhnlich hält Peter, wenn er betrunken ist,irgendwen für einen Verräter und will ihn aufspießen. Wer ihn davon abhält, ist ein Mitverschworener. Wer ihn nicht abhält, ist ein Verräter, wenn der Zar wieder nüchtern ist.“
„Ein angenehmer Hofdienst!“ fiel Leibniz ein.
„Gewiß, sehr angenehm.“ Charlottens Ton wurde ebenfalls ironisch. „Es gibt aber noch charmante Einzelheiten bei diesen Festen. Stets muß ein eigener Raum mit allerlei Frauenzimmern angefüllt sein. Und diese Mädchen haben die Pflicht, während der ganzen Zeit der Gelage zu Diensten zu stehen. Da dies aber keine aushält, hat Lefort, als routinierter Admiral, die Ordnung der Schiffswachen eingeführt. Die Mädchen werden genau alle vier Stunden abgelöst, wie die Wachen einer Fregatte. Ist das nicht wunderschön?“
„Zumindest durchdacht und zweckentsprechend.“ Leibniz, den ein Ekel ankroch, blickte zu Boden.
Charlotte aber lachte auf.
„Das ist ja bloß die Erholung“, sagte sie sarkastisch. „Die ,Regierungstätigkeit‘ ist bedeutend komplizierter. So hat Peter unlängst in Mitau einer Dame auf der Straße plötzlich mit so furchtbarer Stimme ein Halt zugerufen, daß sie wie erstarrt stehen blieb. Dann ging er auf sie zu, als ob er sie verschlucken wollte, nahm ihr kurzerhand die emaillierte Uhr vom Busen, beguckte sie außen und innen, gab sie wieder zurück und brüllte ,Marsch!‘ Dann ging er gemächlich Weiter. Ein anderesmal hat er sich in Königsberg bei einem Galadiner plötzlich eingebildet, er müsse die ihm noch unbekannte Strafe des Räderns sehen. Als man ihm erklärte, es sei niemand da, der zu solcher Strafe verurteilt sei, lachte er zuerst schallend, dann sprang er auf, hieb mit der Faust auf den Tisch und schrie unverständliche Flüche. Plötzlich Wurde er ruhig und Vergnügt und zeigte auf einen seiner Gardisten, der an der Saalwand Leibwache stand. ,Nehmt den dort! Dem Wird es eine Ehre sein, mir das kleine Vergnügen zu machen‘, grinste er. Und mein Gatte, der Kurfürst, mußte alles aufbieten, um den Justizmord zu verhindern. Aber ich Will sie nicht länger aufhalten, Leibniz. Ich erzähle Ihnen nur noch, daß sich der Zar sehr eingehend für die Naturwissenschaften interessiert. Besonders die Anatomie ist sein Gebiet. Als er in Holland einmal einer Sezierung zusah, und bei einer Leiche alle Adern und Sehnen bloßlagen, Wollte sich ein Edelmann seines Gefolges drücken, da anscheinend sein Magen dem Anblick nicht gewachsen war. Peter bemerkte es, faßte ihn am Kragen und befahl ihm bei Todesstrafe, mit den Zähnen einen Muskel der Leiche herauszureißen. Er nennt solche Dinge ,Aufklärung des Volkes‘. Sehen Sie jetzt ein, Leibniz, daß meine Mutter froh ist, nur Herrn Lefort zu beherbergen?“
Leibniz machte eine verständnislose Geste.
„Ein Rätsel“, erwiderte er dann langsam. „Ein unlösbares Rätsel. Derselbe Zar Peter besitzt nämlich, soviel ich hörte, auch andre Fähigkeiten. Weit andre. Ich werde auf jeden Fall versuchen, Lefort ein wenig zu beeinflussen. Im Sinne einer Trennung Asiens von Europa. Auch in der eigenen Brust des Zaren.“
„Dieser Versuch ist zumindest gewagt“, sagte plötzlich die Kurfürstin Sophie, die dem letzten Teil des Gespräches kaum zugehört zu haben schien. „Und nun, Leibniz, sehen Sie zu, was Sie ausrichten. Daß Sie nicht auf strenge Etikette zu rechnen haben, dürfte Ihnen klar sein. Leben Sie wohl!“
Leibniz kam zu Mittag in Koppenbrügge an. Das Schloß war zwischen Wäldern gelegen und ließ an Einsamkeit nichts zu wünschen übrig.
Schon im Schloßhof sah er, daß die Russen sich häuslich eingerichtet hatten. Die Pferde, die Wagen, Lanzen, Gewehre, die vergoldete Kanone und alles übrige stand regellos umher und die Soldaten saßen beim Branntwein und sangen und gröhlten.
Die hannöverschen Gardisten, die Leibniz begleiteten, waren Veteranen aus den Türkenkriegen. Sie wußten genau, daß solcher Soldateska gegenüber jede Schwäche nur schwere Konflikte bringen konnte. Deshalb traten sie möglichst entschieden, fast drohend auf, herrschten die Russen an und umringten Leibniz so lange, bis ein etwas weniger bezechter Offizier sichtbar wurde.
Dieser nun erblickte seine Aufgabe wieder darin, zu brüllen. Er teilte sogar an seine Leute Fußtritte aus und machte schließlich vor Leibniz einige Verbeugungen, die dieser sehr hoheitsvoll erwiderte. Der Offizier war über die Unherzlichkeit Leibnizens zuerst beleidigt. Plötzlich aber dämmerte es ihm auf, daß es vielleicht geratener wäre, seinen Unmut zu unterdrücken und er führte Leibniz wortlos über eine Treppe hinauf. In einem Vorsaal saßen Edelleute in Hemdärmeln, die ebenfalls „rasteten“. Das heißt, sie spielten Karten, schrien durcheinander und tranken. Einer schien über Leibniz einen Witz gemacht zu haben. Denn alle blickten unvermittelt auf ihn, kehrten sich dann ab und lachten.
„Mit wem haben wir das Vergnügen?“ fragte plötzlich neben Leibniz eine Stimme auf französisch. Das Lachen verstummte.
Leibniz wandte sich zum Sprecher. Ein typischer Russe mit breiten Backenknochen und tiefliegenden schwarzen Augen. Er trug eine minderprächtige Uniform.
„Mit dem Geheimen Justizrat, Reichsfreiherrn von Leibniz“, erwiderte Leibniz leise und abweisend. „Ich erscheine im direkten Auftrag des hohen Kurfürsten. Ich bitte, mich Seiner Hoheit, dem Herrn Wojwoden Admiral Lefort zu melden.“
„Sofort werde ich die Meldung erstatten.“ Der Dolmetsch grinste sonderbar und verschwand durch eine Tür.
Leibniz war ein wenig verstört. So schlimm hatte er sich den Empfang nicht vorgestellt. Diese Gesandtschaft, die „Große Gesandtschaft“, die Europa imponieren, die geradezu die Geschicke Europas verwandeln sollte, war doch sicher aus der Elite Rußlands zusammengesetzt. Wie sahen dann die anderen Russen aus? Wahrlich, ein sehr, sehr bedenklicher Fastnachtsaufzug!
Der Dolmetsch kam zurück.
„Väterchen Wojwode lassen bitten“, schnarrte er nicht eben freundlich. Und er zeigte mit einer plumpen Geste gegen die Tür.
Nun kam die Entscheidung. Eine Entscheidung, die das Geschick Europas für Jahrhunderte beeinflussen konnte. Leibniz biß die Zähne zusammen. Er mußte Lefort für sich gewinnen. Mußte! Das Beiwerk dieser betrunkenen Horde war gleichgültig. Lefort war ein Genfer. Aus französischem Adel. War ein Europäer, wenn er auch, wie man hörte, der Anführer aller Zechgelage und Orgien war. Das war aber vielleicht nur feinste Diplomatie, um Peter zu betäuben. Man würde sehen. Jedenfalls habe ich meinen ehernen Plan. Ich habe schon schwierigere Kämpfe durchgefochten. Lefort ist wahrscheinlich nur im Verhältnis zu den Russen ein großer Staatsmann. Und Leibniz trat ein.
Auf einem Fauteuil, hinter einem verschwenderisch gedeckten Tisch saß, ungemein prächtig gekleidet, der „Wojwode“. Er lungerte eher als daß er saß. Und hatte eine nasse Binde um die Stirne geschlagen.
„Mir ist nicht recht wohl“, sagte er mit müder Stimme und erhob sich ein wenig, ließ sich jedoch gleich wieder zurückfallen. „Bitte, Baron, setzen Sie sich zu mir. Hoffentlich haben Sie mir nicht zu viel zu erzählen. Jedes Wort schmerzt mich im Kopf. Ich fürchte, es ist der Beginn einer Krankheit.“ Und er nahm eine Birne vom Tisch und biß unbekümmert hinein. „Ach, Pawel Iwanowitsch, du bist noch da? Mach, daß du hinauskommst! Stell dich aber vorher noch gefälligst vor.“
Jetzt erst bemerkte Leibniz, daß im Hintergrund des Zimmers vor einem Tischchen ein grotesk gekleideter Sekretär hockte, der eifrig schrieb. Er trug eine strohgelbe Stutzperücke, war mit einem erbsengrünen französischen Rock bekleidet und machte einen nicht unintelligenten Eindruck. Als er aufstand und auf Leibniz zukam, schien er sogar eine gewisse Straffheit des Körpers zu besitzen. Nur hatte er die merkwürdige Gewohnheit, ganz unvermittelt wie besessen mit dem Kopf und dem rechten Arm zu schütteln, wobei sich seine schwarzen Augen erschreckend weiteten. Auf der rechten Wange hatte er eine große Warze. Er stellte sich ein wenig scheu und schlottrig vor und verließ schweigend den Raum, nicht ohne daß ihn noch bei der Tür eine seiner Zuckungen überkam.
Als sich Leibniz gesetzt hatte, meinte Lefort gelangweilt:
„Das ist Pawel Naryschkin, ein entfernter Vetter Seiner Majestät. Er ist mir ein Rätsel. Dieses Zucken ist mir unheimlich. Ich halte es für den Beginn der hinfallenden Krankheit. Ansonst ist er still, bescheiden und tüchtig. Und scheint auch, soweit ich es beurteilen kann, dem erhabenen Zaren nichts zu hintertragen, obgleich er einigen Einfluß auf ihn hat. Aber jetzt, Baron, sagen Sie mir schnell Ihre Wünsche. Wir sind die Nacht durchgeritten und ich möchte mich niederlegen. Morgen müssen wir dann dem Zaren nachjagen. Er soll schon großen Vorsprung haben. Ich freue mich sehr auf Wien. Waren Sie schon dort, Baron?“ Lefort gähnte und schlug sich mit der flachen Hand auf den weitgeöffneten Mund.
Leibniz war entsetzt. Was sollte er antworten? Hatte es überhaupt einen Sinn, zu antworten? Lefort schien Hannover anscheinend nicht für einen Staat zu halten, mit dem man überhaupt zu verhandeln brauchte.
„Nun?“ fragte Lefort gedehnt und ungeduldig. „Ach, entschuldigen Sie, ich vergaß, Ihnen etwas anzubieten!“ Und er füllte ein Glas mit Likör und schob es Leibniz hin.
Leibniz nippte mechanisch. Dann erwiderte er:
„Es tut mir unendlich leid, Sie in so schlechter Verfassung anzutreffen, Durchlaucht! Ich hatte die kühne Hoffnung gehegt, aus so hervorragendem Munde einiges über Rußland zu erfahren und darüber hinaus Dinge zu besprechen, die Rußland und Hannover gemeinsam interessieren könnten.“
Lefort lächelte melancholisch.
„Rußland? Was weiß ich über Rußland? Alles ist ein Spuk, lieber Baron. Und Angelegenheiten zwischen uns und Hannover? Oh du meine Güte! Was sollten das für Angelegenheiten sein ? Wir haben schon so viele Angelegenheiten, daß ich nicht mehr aus noch ein weiß. Holland, England, Frankreich, Brandenburg, Litauen, Polen, Schweden, Türkei. Jetzt kommt Österreich, Venedig und Ungarn dazu. Nein, verehrter, lieber, bester Baron! Sagen Sie Ihrem Kurfürsten, wir ließen uns innigst für das Schloß hier bedanken. Es gefällt uns sehr. Und wenn der Kurfürst einmal nach Rußland kommt, werden wir ihm auch ein Schloß zur Verfügung stellen. Das sind unsre gemeinsamen Angelegenheiten. Wenn Sie aber einen russischen Orden zu tragen wünschen, Baron, dann bitte schreiben Sie Ihren Namen bei Naryschkin, ich meine den Sekretär, der sich einbildet, Pariser Tracht zu tragen, in die Liste. Es hat mich wirklich aufrichtig gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Baron!“ Und er streckte Leibniz mit leidendem Gesichtsausdruck die Hand hin.
Leibniz fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Auf eine solche Niederlage war er nicht gefaßt gewesen. Nichts, weniger als nichts. Lefort spottete vielleicht nicht einmal. Ihm war Hannover wirklich gleichgültig. Gleichgültiger als sein schmerzender Kopf. Und er schien sich auch nicht im geringsten darüber klar zu sein, daß von hier doch einige Fäden nach Wien, nach Brandenburg, nach Polen, Ungarn und Venedig liefen. Und Leibniz wollte schon versuchen, den anmaßenden Wojwoden ein wenig aufzuklären. Lefort aber machte auch diese Absicht zunichte, da er aufgestanden war und mit müden Schritten sich anschickte, den Gast zur Tür zu begleiten.
Leibniz sah nach dieser unmißverständlichen Geste endgültig ein, daß er als Abgesandter des Kurfürsten nur mehr die Möglichkeit hatte, Lefort direkt zu beleidigen oder sich schweigend zurückzuziehen. Zum ersten hatte er keine Vollmacht. Das zweite war deshalb nicht so schlimm, da ja die Unzugänglichkeit der Großen Gesandtschaft bekannt war. Aber es gab noch einen Ausweg. Die Gesandtschaft hatte ja drei Führer. Vielleicht konnte er Golowin oder Wosnizyn stellen. Einen Dolmetsch würde man schon auftreiben. So empfahl er sich äußerst förmlich und gemessen.


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