Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 290c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


44. Die schwarzen Gardereiter[editar]

Ein Jahr später, wieder im tiefen Winter. Schon begann Dämmerung die Straßen Hannovers zu überschatten, da sich blaugraue, zerzauste Schneewolken, vom Westen aufsteigend, über einen grünlich-gelben Himmel heraufgeschoben hatten.
Von allen Kirchtürmen klang in abgestufter Höhe klagendes Glockengeläute. Klagte es wirklich? Wodurch unterschied sich dieses Geläute von frohen Osterglocken? Wohl nur durch die platonische Idee der Trauer, an der das Auf- und Niederwogen der Töne teilhatte. Und erst durch diese Idee wurde es zum Trauergeläute.
Vor der Hofkirche, deren Fassade schwarz verhangen war, brannten Kandelaber mit umflorten Glaskugeln, durch die das Flackern des Lichtes sonderbar rötlich-braun schimmerte.
In dichtem Spalier, Kopf an Kopf, soweit das Auge reichte, harrte das Volk. Vor der Kirche aber, auf deren Stufen der Klerus und die Kapuziner mit Kerzen in den Händen standen und leise Totengesänge rezitierten, war alles versammelt, was im Herzogtum einen Rang besaß: die Marschälle und Offiziere, der Geheime Rat, der ganze Adel, die Professoren von Helmstädt, die Beamtenschaft.
Aus der Ferne wurde vielhufiges Pferdegetrappel hörbar und veranlaßte die letzten, ihre Häupter zu entblößen.
Leibniz starrte in die Richtung des Schalles. Er wollte es nicht begreifen, obgleich auch nicht die entfernteste Möglichkeit eines Irrtums, einer Hoffnung blieb. Johann Friedrich war tot! Und seine sterblichen Überreste würden in wenigen Minuten in die Kirche getragen werden, um dort aufgebahrt zu bleiben, bis der neue Herzog weiteres wegen des Begräbnisses veranlaßt hätte.
Vor wenigen Monaten erst war Johann Friedrich auf Rat der Ärzte nach Italien gezogen. Er hatte den Winter in Venedig verbringen wollen. In jenem Venedig, das schon mehr als eine Tragödie des Welfenhauses gesehen hatte: im Venedig tollsten Karnevals, heiligster Entschlüsse, berauschendster Kunst und wahnsinnsnahen Erlebens. Ein seltsam bunter Zug, ein wandernder Hofhalt von vierundneunzig Personen und hundertvier Pferden und Saumtieren, war im Herbst aufgebrochen, um den Herzog nach Italien zu bringen. Hofmarschall, Hofmeister, Kavaliere, ein Bergrat, ein Hofkaplan, ein Leibarzt, ein Hofbarbier, Sekretäre, Pagen, Bereiter, fünf italienische Musici, Lakaien, Kammerknechte, Trompeter, Falkoniere, Köche, Tapezierer, Brauknechte, Kutscher, Vorreiter und ein Uhrmacher. Nichts hatte gefehlt, nicht einmal der Zwerg Stephan Tiele. Und gleichwohl war schon dieser Auszug aus Hannover den Wissenden anders erschienen als den nörgelnden Bürgern, die sich darüber beschwert hatten, daß der sauer erworbene Groschen des niedersächsischen Bauern in dieser unerhörten Art den ohnedies märchenreichen Venezianern in den gierigen Schlund geworfen werde. Insbesondere Leibniz wußte es besser, was diese „Hoffahrt“ bedeutete.
Es war nicht so sehr die angegriffene Gesundheit als der schwindende Lebenswille des Herzogs gewesen, der von Tag zu Tag sich verschlechtert hatte. Ein wirres Jahr lag hinter Leibniz. Wieder schier nicht zu bewältigende Arbeit. Monate in Zellerfeld ohne wesentlichen Fortschritt der Entwässerungsarbeiten. Studien, Verhandlungen, Politik, Wissenschaft. Und ein zäher, aber auch nicht eben erfolgreicher Notenwechsel, der die Wiedervereinigung der Kirchen betroffen hatte. Ein einziger wirklicher Lichtblick: Walter von Tschirnhaus war eines Tages, von Italien kommend, bei ihm hereingerasselt. Ganz verwandelt. Auch Tschirnhaus hatte inzwischen Spinoza überwunden, schwelgte in Bereichen rein idealistischer Philosophie und gab sich religiösen Meditationen hin. Er war aber darüber hinaus voll von Plänen. Hatte, wenigstens nach seiner eigenen Ansicht, inzwischen die Mathematik mächtig gefördert und war eben auf dem Weg zu seinen verwahrlosten Gütern. Es schor ihn wenig, daß sein Geld zusammenschrumpfte. Er hatte Pläne, Pläne, die ihn zu schwindelndem Reichtum hinanführen würden. Und er wollte gleichzeitig den Himmel stürmen. Buchstäblich. Er hatte nämlich das Spiegelteleskop verbessert und sah kein Hindernis, die Spiegel bis zu unwahrscheinlicher Größe, bis zu beliebiger, gigantischer Größe auszubauen. Alles war ja bloß eine Frage der Glasherstellung. Und deshalb war er eben dabei, die Reste seines Vermögens zu mobilisieren, um mächtige Glashütten ins Leben zu rufen. Er war in Murano wochenlang, als Arbeiter verkleidet, trotz aller Wachsamkeit der Staatsinquisition Venedigs, in den Werkstätten umhergeschlichen, hatte tiefste Geheimnisse erforscht und ausgekundschaftet. Was die dort in Murano konnten, würde er auch noch schaffen. Und er hatte sogar einige Unzufriedene aus den Werkstätten von Murano gegen gutes Geld und noch bessere Versprechungen ausgedungen und hieher nach Deutschland mitgenommen. Kurz, es war alles in schönster Ordnung. Mit zierlichen Vasen, Kelchen, Perlen und Glaslampen würde er Reichtümer erwerben, mit den Teleskopen aber zuerst dem Himmel die letzten Geheimnisse entreißen und seinen Namen unaustilgbar in die Annalen der Sternkunde einverleiben. Dann jedoch würde er auch diese Teleskope an alle Sternwarten der Welt liefern, seine Glashütten würden sich zu riesigen Manufakturen erweitern - und der Obolus, den er damit Deutschland gezollt hatte, würde ihn auch äußerlich als den Patrioten erweisen, der er sei. Nur jetzt nicht kleinlaut werden! Deutschland steigt auf, wird größer, reicher, bevölkerter. Es hat sein Maximum noch lange nicht erreicht, steckt erst in derben, unternehmungslustigen Kinderschuhen. Überall rege es sich und es sei ebenso erstaunlich als hoffnungsvoll, wieviel blonde, blauäugige Kindlein in Stadt und Land umherwimmelten. Bei Rittern, Bürgern und Bauern.
Es waren für Leibniz frohe, erfrischende Tage gewesen, obgleich er über den naiven Enthusiasmus des Grafen Tschirnhaus mehr als einmal hatte lächeln müssen. Nicht etwa, weil er dessen Hoffnung nicht selbst geteilt, sondern nur, weil er besorgt hatte, Tschirnhaus nehme Dinge vorweg, die vielleicht erst in einem Jahrhundert zur Reife würden gedeihen können.
Ebenso plötzlich, wie Tschirnhaus erschienen war, hatte er sich wieder empfohlen. Und hatte in Leibniz ein Gefühl der Leere und Vereinsamung zurückgelassen, dessen tiefste Ursachen vielleicht beim Herzog Johann Friedrich lagen. Denn der Herzog war in letzter Zeit in seinen Entschlüssen so sprunghaft und in seinen Plänen so skeptisch geworden, daß Leibniz irgend ein Ende dumpf gefühlt hatte. Nur hatte er es in ganz andrer Richtung vermutet.
Johann Friedrich hatte nämlich, gleich als mache er ein Testament, plötzlich jedem neuen Gedanken entsagt, hatte alle Dinge, die die Zukunft betrafen, geradezu brüsk abgelehnt und sich dafür mit zehnfachem, beinahe verbissenem Eifer auf die Ordnung und Beendigung aller schwebenden Angelegenheiten gestürzt. Und es war Leibniz und Grote besonders aufgefallen, daß er, im Gegensatz zu seiner bisherigen Art, unvermittelt äußerste Sparsamkeit beobachtet hatte; und wieder im Gegensatz zu diesem Sparsinn in derart prunkvollem Aufzuge nach Italien abgereist war. Die Herzogin Benedicta, die Leibniz kaum kannte, da sie sich stets nur mit Franzosen umgeben hatte, war mit den Prinzessinnen für den Winter nach Paris entlassen worden, wogegen sie durchaus nicht remonstrierte. Der Herzog aber hatte dem Kanzler und Grote nach tagelangen Sitzungen des Geheimen Rates mit Ausnahme des Rechtes über Krieg und Frieden alle Vollmachten übertragen und beinahe ängstlich darauf gedrungen, daß nichts unerledigt blieb.
Leibniz, dem das alles bekannt war, hatte aus solchen Handlungen, noch mehr aber aus Amdeutungen des Herzogs geschlossen, daß Johann Friedrich, durch das Scheitern seiner Politik enttäuscht, die Regierung niederzulegen gedenke und vielleicht nur deshalb den engeren Hofstaat nach Italien mitgenommen habe. Eine Vermutung, der Grote beigestimmt und die er dadurch bestärkt hatte, daß ja der Herzog kaum noch auf männliche Nachkommenschaft hoffe und daß er deshalb das Unvermeidliche, den Übergang seiner Herrschaft auf den jüngsten Bruder Ernst August, im Interesse seines Volkes und im eigenen Interesse sobald als möglich eintreten lassen wolle. Im Interesse des Volkes, da Ernst August - der Held der Conzer Brücke, der Besieger des berühmten Marschalls von Crequi, der eifrige Protestant - viel eher dem Herzogtum im Reiche eine gehobenere Stellung, vielleicht sogar die Kurwürde verschaffen würde können. Im eigenen Interesse aber, weil Johann Friedrich sich endlich, nach mühevollstem. Leben, seinen religiösen und wissenschaftlichen Neigungen als Privatmann würde zuwenden dürfen.
Jedenfalls hatte Ernst August, zu dem alle die Gerüchte sicher auch schon gedrungen waren, den Bruder in Venedig erwartet, um mit ihm nach Welfenart den Karneval zu verleben. Und am Aschermittwoch die Welt durch neue Entschlüsse zu verblüffen.
Es hatte sich jedoch, wie von überirdischen oder unterirdischen Mächten gelenkt, alles weit anders entwickelt. Und in Augsburg hatte eine stärkere Macht der bunten Südfahrt Johann Friedrichs ein unabänderliches Halt zugerufen.
Der Herzog hatte in Augsburg kurze Station gemacht. Denn die Pest war ausgebrochen und alle Zugänge nach Italien waren versperrt. Er wartete nun, bis für ihn, was nicht zu bezweifeln war, die Erlaubnis der Republik Venedig zur Einreise eintreffen würde. Aber schon am dritten Tag nach seiner Ankunft in Augsburg war er von einer rätselhaften Krankheit, durchaus nicht von der Pest, befallen worden, die ihn in unwahrscheinlich kurzer Zeit hingerafft hatte.
Sein Bruder Ernst August hatte sogleich Venedig verlassen, war bestaubt und verwettert in Augsburg eingeritten und hatte mit eisernen Griffen alles veranlaßt, was er für erforderlich hielt. Die Verwaltung des Herzogtums jedoch - so hatte er Grote und Ludolph Hugo mitteilen lassen - solle vorläufig ohne Ausnahme im Sinne des Verblichenen weitergeführt werden. Man möge ihm acht Schwadronen Gardereiter senden. Das sei alles, was er vorläufig zu befehlen habe.
Es war das Hufgeklapper dieser Schwadronen, das durch das anschwellende Dröhnen der Kirchenglocken, durch den klagenden Gesang der Mönche und durch aufsteigende Wolken Weihrauchs näher und näher heranrückte.
In Leibniz aber gewann das Unentrinnbare der Wirklichkeit über alle Betäubung und Rückschau die Oberhand. Nicht allein der tiefe Schmerz um den Freund Johann Friedrich, der ihm fast ein Vater gewesen war, auch die wache Sorge um die eigene Gegenwart und Zukunft ergriff von Leibniz Besitz. Denn diese Sorge war nicht bloß eine persönliche Angelegenheit des Wohlergehens und des gesicherten Lebens, selbst wenn er seine heutigen Fähigkeiten in aller Demut vor dem noch Erreichbaren nicht übertrieben hoch einschätzte. In solchen Augenblicken wie dem jetzigen war aber Bescheidenheit fehl am Ort. Noch einmal: Es handelte sich nicht um Leibniz, sondern um die Wahrheit. Und dieser Wahrheit mußte er kühn ins Gesicht sehen. Was in deutschem Land sich regte, was hier den geistigen Kosmos weiterbildete, das wußte er besser als jeder andere. Wußte darüber hinaus, was in fremden Ländern geleistet wurde. Und wußte schließlich, daß es da eine und nur eine Entscheidung gab. Er war unersetzbar für sein Land, war einer der ganz wenigen, die seinem Volke heute geistig Weltrang verliehen. Dadurch aber war er nicht mehr die Person Leibniz, sondern ein Teil des Ganzen mit höheren Pflichten und höheren Rechten. Mußte, wenn es die Mitbürger auch nicht einsahen, für dieses höhere Recht kämpfen. Was aber würde nun folgen, da Johann Friedrich tot war? Auch hier war äußerste Besinnung notwendig. Und diese Besinnung sagte ihm, daß er in den letzten Jahren, ein wenig verblendet von lokalem Ehrgeiz, in seiner Haltung fast herabgesunken war. Die Vorsilbe „Hof“ klang in seinen Ohren. Hofluft, Hofphilosoph, Hofrat, Hofgelehrter. Verlangte die Welt von einem Leibniz wenn nicht gerade gegnerische so doch zumindest gleichgültige Stellungnahme zu allen äußeren Mächten des Lebens? Oder ist, in Variierung des Ausspruchs Philipps von Makedonien, Hannover heute schon für mich zu klein? So daß ich mir ein größeres Reich suchen muß? Vielleicht wieder einen „Hof“? Ich scheine da in einem merkwürdigen inneren Zwiespalt befangen zu sein. Lambeccius ist nicht mehr Bibliothekar in Wien. Man hat mir nahegelegt, mich um diese Stelle zu bewerben. Ich habe es getan. Natürlich habe ich es getan. Denn die Bibliothek des Kaisers birgt unerhörte Schätze. Und ich könnte leben von dieser Stelle. Gut und ausreichend. Und könnte nebenbei der große Entdecker, Philosoph und Gelehrte Leibniz bleiben, könnte mich in die Wissenschaft vergraben, könnte auf den Waldhöhen um Wien spazieren gehen und das brausende Leben dieser großen Stadt aus distanzierter Ferne beobachten. Und ich könnte mit erleuchteten Gelehrten Verkehr pflegen, könnte die Zeitschrift gründen, die ich schon längst plane, jene Acta Eruditorum, jenes Archiv des Wissens, das die englischen und französischen gelehrten Zeitschriften an Gediegenheit und Bedeutung übertreffen und ein geistiger Brennpunkt werden soll. Ist das kein Ziel? Vielleicht ist es ein Ziel. Was aber habe ich in Wirklichkeit getan? Ich habe, hastig und aufgeregt, an Rojas de Spinola und durch Grote an andere hochvermögende Männer nach Wien geschrieben, daß ich die Stelle des Bibliotheksleiters nur annehmen könnte, wenn ich zugleich zum protestantischen Hofrat des Reiches ernannt würde. Denn es wäre für mich ein „Abstieg“, plötzlich nur mehr Bibliothekar zu sein, wo ich hier in Hannover wirklich im Rate des Souveräns gesessen bin. Abstieg? Dieses Wort muß ohne Rest aufgeklärt werden. Sonst haben alle recht, Huygens, der sagte, ich wolle nur „scheinen“, Spinoza, der meine höfischen Ambitionen verächtlich belächelte, und noch die vielen anderen, die mir das gleiche gesagt oder, obgleich sie es dachten, es mir nicht gesagt haben. Was also ist die Ursache dieser meiner unleugbaren Ambitionen? Das höhere Gehalt? Nein, das nicht. Ich werde ruhig auf mein Haus, auf Equipage, Adjutanten, auf alles andere verzichten, was mir das Leben eher kompliziert als erleichtert. Und ich sehne mich auch nicht nach Verstimmungen, Auftritten und Intrigen, die der Rang im Gefolge hat. Ich kann auch Vorgesetzte aller Art entbehren, insbesondere wenn ich in eine so vielfältige Hierarchie eingegliedert bin, daß ich täglich mehreren Herren dienen muß. Ich habe auch als Hofrat auf der protestantischen Bank des Reiches sicher nicht mehr Einfluß in der wichtigsten Angelegenheit denn als Bibliothekar und Gelehrter: nämlich in der Möglichkeit, Gelehrte und Philosophen zu entdecken, zu empfehlen, zu versorgen. Was also will ich? Dabei fürchte ich mich vor diesem Helden Ernst August, der jetzt in Hannover Herzog sein wird. Der andre Länder mitbringt und mit Georg Wilhelm von Celle und Lüneburg, dem dritten Bruder der Welfendynastie, so eng befreundet ist, daß sich schon morgen unser Land faktisch ungeheuer erweitern wird. Warum aber fürchte ich den neuen Herzog? Doch wieder nur als Beamter, als hannöverscher Hofrat. Ich fürchte nämlich, daß er mich bestätigt und daß ich für ihn nichts sein werde als der jüngste Hofrat. Er ist nicht gerade hochfahrend, dieser Herzog Ernst August. Ist zudem Protestant, was meine Stellung verbessern könnte. Er wird Ludolph Hugo behalten, Grote und Podewils. Und alle anderen. Aber schon jetzt merke ich, daß jeder hier zuerst an sich denkt. Jeder will „übernommen“ werden, will seinen Wirkungskreis behalten. Ob er nun Graf von Platen heißt oder Grote oder Podewils. Es will aber jeder auch alle unwägbaren Vorteile und alle spezielle Gunst behalten, die er durch Johann Friedrich erfuhr. Und will verhüten, daß neue Männer auftauchen. Gut, in dieser Beziehung genieße ich die Vorteile der Clique. Die anderen werden mich im eigenen Interesse und aus Prinzip fördern. Ich habe zudem wenig Feinde. Ich kann jüngster hannöverscher Hofrat bleiben, behalte Haus, Equipage und Gehalt. Man wird mich sogar vorschieben. Molanus von Lokkum wird mich stützen, die Professoren werden mich stützen, die ich hieher rief und die mir ihre Anstellung verdanken. Aber ich werde wahrscheinlich nicht Leibniz bleiben. Denn die Person, der Mensch Leibniz wurde von Johann Friedrich dreimal berufen. Ernst August aber übernimmt diesen Mann nur als Erbstück. Aus Pietät. Der Herzog ist herrisch und ist ein Soldat. Kein Schöngeist und Gelehrter wie Johann Friedrich. Und er wird mich „die Justiz-Sachen traktieren lassen“, nicht jedoch mich bei jeder wichtigen und entscheidenden Sache jenseits meines Amtes zuziehen. Vielleicht bekomme ich ab und zu eine Staatsschrift zu verfassen, ein Gutachten auszuarbeiten. Ich bin aber nicht mehr Leibniz. Und hier sehe ich auf den Grund meiner höfischen Ambitionen. Ich dränge mich eben zum Mittelpunkt, um aus diesem Mittelpunkt heraus zu wirken. Ich bin kein Philosoph im gewöhnlichen Sinne. Ich bin ein einziges, riesiges „Auch“. Ich bin auch Philisoph, auch Mathematiker, auch Theologe, auch Jurist. Aber im tiefsten Wesen bin ich Platoniker, der, wie Platon selbst, bei irgend einem Tyrannen in irgend einem Syrakus den Idealstaat verwirklichen will, die herrliche „Politeia“, in der die Philosophen als oberste Kaste herrschen. Und der überall an der „Unvollkommenheit“ der Menschen scheitert. Ich habe bisher ohnedies unwahrscheinliches Glück gehabt. Ich bin verwöhnt und verdorben. Ich stand neben Boineburg, neben dem Kurfürsten Schönborn, sogar manchmal neben Colbert als Einbläser. War „wirklicher“ Hofrat, wirklicher Berater von Höfen, war Mitglied der obersten Kaste im Sinne Platos. Und wurde nicht einmal, wie der göttliche Platon selbst, unter Todesdrohungen von einer erbosten Hofclique davongejagt. Jetzt aber will ich mich als Kasten-Mitglied dieser sonderbaren Philosophenschule, dieser im tiefsten Grund altägyptischen Priester-Theokratie, die über Pythagoras auf Platon und über Platon und die civitas Dei, den Gottesstaat des heiligen Augustinus, auf mich gekommen ist, am Hof des Deutschen Kaisers einschleichen und hoffe wahrscheinlich, daß es mir gelingen wird, in Wien bald Fuß zu fassen. Ich bin nämlich in Wien gerade als protestantischer Hofrat wertvoll. Ich habe Beziehungen zu Frankreich, bin einer der Initiatoren der Vereinigung der Kirchen, bin ein verläßlicher Theist und Streiter gegen die Freigeisterei. Die Jesuiten sind mir wohlgesinnt. Denn sie sehen in mir, trotz meiner Ketzerei, einen Soldaten der Ecclesia militans, einen Soldaten der ersten Sturmschar des Monotheismus überhaupt. Und ein befreundeter Protestant, ein zur Versöhnung bereiter Gegner, ist manchmal wertvoller als ein lauer Anhänger, als ein hochrangiger Gelehrter der eigenen Reihen, der vielleicht gar mit den modernen Freigeistereien liebäugelt und sich dann noch auf seine aufgeklärte Haltung Gott weiß wie viel einbildet.
Darf ich aber eben jetzt Hannover verlassen? Muß ich nicht hier den Kampf durchfechten? Hier, gerade hier, werden sich doch meine Ziele und Wünsche verwirklichen. Ernst August, der Held der Conzer Brücke, wird seine vierzehntausend Mann anders verwenden als Johann Friedrich. Weder als stille Reserve des Sonnenkönigs, noch als Schutz für eigene „Neutralität“, die im Wesen nichts anderes war als eine Bedrohung aller Reichsarmeen vom Innern des Reiches heraus. Stets sind ja bisher den gegen Frankreich streitenden Reichstruppen die vierzehntausend Mann des Generals Podewils als rätselhafte Drohung im Rücken gestanden. Das wird jetzt gründlich anders werden. Ernst August wird die Truppen an den Rhein senden oder nach Ungarn gegen die Türken oder irgendwohin, wo sie eben das Deutsche Reich braucht. Und er wird über kurz oder lang Kurfürst werden. Und wird es verhindern, daß Ludwig so viele Kurfürstentümer einsackt, daß wir schließlich eine französische Marionette als Deutschen Kaiser erhalten. Warum will ich plötzlich aus dieser Umgebung fliehen? Warum soll ich mich in Wien, wo noch weit andre Interessen durcheinanderlaufen, leichter und besser durchsetzen als hier, wo sich alles in meiner Richtung entwickelt? Will ich vielleicht wirklich stets dort sein, wo ich gegen den allgemeinen Strom schwimmen muß? Oder wo ich doch ein Fremder bin? Abenteuerer des Geistes? Johann Friedrich hat mich einmal so genannt. Verworrene Anlage, daß ich die reinsten Vertreter eigener Ziele mehr scheue als die Gegner! Ich kann mich anscheinend mit Gegnern leichter auseinandersetzen als mit Gleichgesinnten. Oder ich bin so sehr ein Proselytenmacher und Missionär meiner Anschauungen, daß ich mich nur in partibus infidelium, in den Provinzen der Ungläubigen und Zweifler, wohlfühle.
Das Schicksal wird entscheiden. Ich habe alles gehörig verwirrt. Die zu Wien werden sich darüber schlüssig werden, ob sie Leibniz auch als Berater in das Zentrum des Deutschen Reiches berufen wollen; und nicht nur als Leiter der Bibliothek. Und Ernst August wird mir auch bald zeigen, ob er in mir Leibniz oder den kleinen, übertrieben jung bestallten Hofrat sieht. Er ist ein Sparmeister. Ausnützen wird er mich sicherlich, falls er mich bestätigt. Wozu aber? Ich werde ihn jedenfalls nicht bitten. Ich werde im Gegenteil noch andere Möglichkeiten ins Rollen bringen, daß er mich schließlich als Leibniz verwenden muß, wenn er mich halten will.
Tragischer Undank gegen den Toten, der mein Vater sein wollte. Gegen den gütigen, weisen Johann Friedrich. Es ist Undank in mir. Denn ich kann es nicht leugnen, daß die Welt für mich wieder größer geworden ist seit dem Tode dieses bestgesinnten aller meiner Förderer. Ich darf keinen Vater haben. Heute erwache ich zum zweitenmal im Leben aus der behüteten Kindschaft. Erwache zu mir selbst. Erwache neuer Verwirrung entgegen, die von mir neue Lösungen heischt und erzwingt. Verzeih mir, Johann Friedrich, Verzeih mir solche Gedanken! Stets werde ich deiner Hand in Liebe gedenken, die mir sorglich die Wange streichelte. Werde deine guten Blicke nie vergessen. Werde deinen unausgesprochenen Vaterschmerz in mich selbst aufnehmen, der dich überkam, wenn du sahst, daß dein Wahlsohn Leibniz in wesentlichsten Dingen, Religion und Nation betreffend, andere Pfade ging. Verzeih mir. Das Gesetz des Lebens, der Ratschluß Gottes aber scheint unsre Trennung gewollt zu haben. Und hat dich in den Frieden gerufen, während er mich wieder an den Beginn des Kampfes stellte, dorthin zurückwarf, wo ich in der Bibliothek des leiblichen Vaters begann. Und das ist das Schrecklichste: daß wir nämlich bei jedem Schritt gegen die Einzelnen freveln müssen, wenn wir das Ganze höherbauen wollen. Dieses Ganze, das doch wieder nur aus den Einzelnen besteht. Gott aber scheint, obwohl er die Haare auf dem Haupte jedes Menschen zählte, von uns die Vollendung des Ganzen heischender zu verlangen als die Rücksicht. So lange wenigstens, bis wir diese Urgegensätze in höherer Einheit versöhnt haben.
Ein Rauschen geht durch die Menge. Die Glocken sind plötzlich verstummt. Wirr flackern die Kerzen durch die fahle Dämmerung. Hunderte von Pferdehufen klappern auf dem Pflaster. Bleich und steinern reitet Herzog Ernst August an der Spitze der schwarzumhüllten Garde-Reiter. Und der Sarg Johann Friedrichs, meines gütigen Vaters, schwankt, in schwarzen Krepp geschlagen, oberhalb der knarrenden, schweren Räder einer Lafette.


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