Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 282c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


36. Die Arbeit behindert beinahe das Arbeiten[editar]

Die nächsten Wochen sahen Leibniz vom Morgen bis in die Nacht beschäftigt, die Beschlüsse über die Phosphorherstellung in die Wirklichkeit umzusetzen. Er reiste von einer Stelle des Landes zur anderen, beschaffte den Sand und die Retorten, ließ Wälder roden, Fahrwege anlegen und eine Art von Hochöfen erbauen. Und er requirierte Tonnen und Fuhrwerke und organisierte den Zutransport des Holzes und der übrigen Ingredienzien in derart mustergültiger Weise, daß bald über einem durch Soldatenkordons abgesperrten einsamen Gehölz rätselhafte, dunkle Rauchsäulen standen, die in den Nächten von sonderbarem Licht durchflammt waren. Dazu ließ er in der Umgebung falsche Gerüchte über den Zweck jeder einzelnen Maßnahme verbreiten. Bald hieß es, es werde ein neues Bergwerk angelegt, bald behauptete man, es seien Festungsbauten im Gange; und schon nach kurzer Zeit nahm man das Ganze als selbstverständlich hin, um so mehr, als Leibniz darauf sah, daß besonders die Anrainer bei den Arbeiten einen guten Verdienst fanden. Die engsten Mitarbeiter jedoch wurden vereidigt und bekamen geradezu schwindelnd hohe Prämien zugesagt, falls alles zu raschem Ende käme und zudem kein Sterbenswort herausdränge.
So gelang es tatsächlich, daß schon zu Beginn des folgenden Jahres Hannover, als erster Staat der Erde, vergleichsweise riesenhafte Mengen Phosphors in den Arsenalen des Generals von Podewils liegen hatte und daß sich die Kriegsingenieure abmühten, den neuen Stoff in den Dienst der Landesverteidigung zu stellen.
Leibniz aber sandte, unter Verschweigung aller Möglichkeiten der Herstellung, bloß als Gelehrter, größere Proben Phosphors an Huygens und Tschirnhaus nach Paris. Um womöglich durch solch öffentliches und anscheinend harmloses Gebaren die Kriegstechniker Frankreichs auf eine etwaige Ankunft des Kommerzienrates Kraft vorzubereiten und der ganzen Sache von vorneherein den geheimnisvollen Zauber zu nehmen.
Zwischen all diese Arbeit fiel der Tod des Freundes und Helfers Oldenburg, der die Hoffnung auf eine Antwort Newtons fast auf Null herabsetzte. Denn Oldenburg hatte kurz vor seinnem Hinscheiden angedeutet, Newton sei derart mit Arbeit überhäuft, daß auf einen baldigen Brief von ihm nicht zu rechnen sei. Und jetzt fehlte gar noch der letzte gutwillige Vermittler in diesem mehr als hindernisreichen Briefwechsel.
Noch ein zweites Ereignis aber warf Leibniz aus seiner praktischen Tätigkeit. Spinozas „Ethik“ war plötzlich mit andren Werken des Weisen im Druck erschienen und lag nun in Hannover auf Leibnizens Schreibtisch; ohne daß er Zeit fand, die längstersehnten Werke bis in die letzten Abgründe zu studieren.
Und sein Briefwechsel wuchs von Tag zu Tag und durfte sowohl im Interesse der Wissenschaft als im Interesse eigenen Erkenntnisdranges weder abgebrochen noch auch nur verzögert werden. Mehr als einmal war ihm ein Kurier mit der Post nachgeritten und er hatte in den Nächten in einem abgelegenen Landgasthof beim Scheine eines Öllämpchens oder eines schwelenden Talglichtes die Antworten ohne das Hilfsmittel einer Bibliothek niedergeschrieben, und war dann, als der Morgen graute und der Kurier nach Hannover zurückgeritten war, im. Halbschlaf an seinen Bestimmungsort weitergefahren, wo ihn schon Soldaten, Werkleute, Kutscher und Chymisten erwarteten.
Die wenigen Tage in Hannover aber waren durch hochpolitische Konferenzen mit Grote oder durch Vorträge beim Herzog ausgefüllt; denn zehn Angelegenheiten, zu denen Leibniz zugezogen werden mußte, waren gleich wichtig und gleich dringend. Und es meldeten sich zudem noch Fachleute, deren Wissen und Eignung er in ruhigen und ausführlichen Gesprächen erkunden sollte, da der Herzog, belehrt durch die Entdeckung des Phosphors, in keiner Weise mehr geneigt war, die wissenschaftsfeindlichen Bestrebungen Stenos zu unterstützen, sondern im Gegenteil der Forschung alle Sorgfalt angedeihen ließ. Auch Steno selbst hatte, unter dem Eindruck seiner Auseinandersetzung mit Leibniz, vorläufig jede Einmischung in das geistige Getriebe Hannovers unterlassen, hatte sich in das Studium Spinozas vergraben, um seine Gesinnung noch mehr zu stärken, und hatte Leibniz nur ab und zu sehr freundschaftlich ermahnt, doch die Beschäftigung mit den großen Kirchenphilosophen nicht ganz zu vergessen. Eine Mahnung, die Leibniz bei jeder seiner.Handlungen wie ein schlechtes Gewissen begleitete.
Aber noch mehr: Ein zweiter, fast könnte man sagen, konträrer Fall Steno war plötzlich aufgetaucht. Der Cartesianer Arnold Eckhart, ein philosophischer Fachmann nicht zu verachtender Tiefe, war Leibniz durch den Herzog zur „Prüfung“ zugewiesen worden und hatte ihn in neue Gewissenszweifel gestürzt. Denn die eigentümlich ernste, sanfte und für die Sache glühende Art dieses Eckhart, eine freigeisternde Gläubigkeit gotischer Tiefe, wenn dieser Widerspruch im Beiwort erlaubt ist, hatte ihm Leibnizens Freundschaft schnell erobert. So daß er sich die größte Mühe gab, den hoffnungsvollen jungen Gelehrten davon zu überzeugen, daß der Cartesianismus eine überwundene Angelegenheit sei. Es gelang ihm aber durchaus nicht. Im Gegenteil. Er trieb Eckhart, der sich mit dem Widerstand eines Ertrinkenden an seinen Descartes klammerte, immer tiefer und tiefer in einen vielleicht sogar ungewollten Cartesischen Dogmatismus hinein. So daß es Leibniz aufgab, den „Ketzer des anderen Ufers“ zu bekehren, und sich darauf beschränkte, der Zeit eine Wandlung der Ansichten Eckharts zu überlassen. Und er verschaffte ihm zur Erleichterung dieser Wandlung eine bekömmliche Anstellung in Hannover und bat den Herzog vorläufig die sehr abstrusen Ansichten dieses großen Talents einfach zu ignorieren.
Nun war aber die Fülle solcher Tätigkeiten durchaus noch nicht die Gesamtsumme alles Notwendigen. Hannover brauchte im politischen Auf und Ab jenes Jahres um so mehr Geld, als gerade in solchem Zeitpunkt der Bittgang um französische Subsidiengelder besonders gefährlich war und zu ewigen drükkenden Bindungen hätte führen können. So mahnte der Herzog, obgleich er selbst diese Mahnung als „Frivolität“ und „Leuteschinderei“ bezeichnete, Leibniz dringend, „die Colbertsche Alchimie“, nämlich die Ausprägung der neuen Taler, zu organisieren und die zahllosen Berechnungen und Denkschriften auszuarbeiten, ohne die eine Münzreform nicht in Angriff genommen werden konnte. Bei dem Geldwesen dieser Zeit bedeutete eine solche Arbeit fast so viel als die Bändigung des Chaos. Denn es durfte weder die Tradition im eigenen Lande zu jäh zerrissen, noch auch der Handelsverkehr mit den Hansastädten, mit Holland, Nürnberg,Venedig, Paris, Wien, London, ja mit Indien, China und Westindien wesentlich gestört werden. Und es war zudem noch gar nicht abzusehen, was die Bergwerke in Zellerfeld, auf deren Silbervorkommen der ganze Plan aufgebaut war, in Zukunft würden leisten können. Eben in jüngster Zeit waren wieder sehr bösartige Wassereinbrüche und Einstürze in diesen Gruben erfolgt. Hier nun mußte Leibniz geradezu das Gebiet der in Spekulationen kaufmännischem Sinne betreten. Und er betrat es, wenn auch nach schweren inneren Kämpfen. Er hatte Zellerfeld noch nicht mit eigenen Augen gesehen. Und gleichwohl war der ganze finanzielle Plan aufs einer unbewiesenen Fähigkeit aufgebaut, Jahrhunderte alte Erfahrung in der sogenannten Wasserhaltung, der Beseitigung schädlicher Grubenwässer, zu überbieten. Und er mußte zudem, da es sich ja nicht um eine private Spekulation handelte, sein Münzprojekt so weit elastisch halten, daß, selbst bei einem vollständigen Versagen seiner Verbesserungen, nicht nur keine Katastrophe eintrat, sondern der gegenwärtige Zustand des Geldwesens auf jeden Fall überholt war.
Schon waren nach glücklicher Beendigung seiner Tätigkeit bei der Erzeugung des Phosphors alle Vorbereitungen für eine mehrmonatige Übersiedlung in den Silberdistrikt von Zellerfeld getroffen, als es wieder einen neuen, diesmal geistigen Schatz zu heben galt, dessen Bergung ihn in weitere Verwicklungen verstrickte. Schuld an diesem bibliophilen Zwischenspiel, das wieder in eine chymische Tragikomödie auslief, war eigentlich Leibniz selbst gewesen. Der Herzog hatte ihm nämlich einmal nebenbei mitgeteilt, er habe gehört, daß die berühmte und wertvolle Bibliothek des Arztes und Naturforschers Martin Fogel in Hamburg demnächst zum Verkauf gelangen sollte. Leibniz nun hatte sogleich ebenso erregt als ausführlich erwidert, er selbst habe mit Fogel lange Zeit, schon von Main aus, Briefe gewechselt und habe sogar im letzten Jahre seines Pariser Aufenthaltes, in dem er vom Tode Fogels erfuhr, Herrn Habbens von Lichtenstern (jenen selben Habbens, der ja als erster Vermittler zwischen Seiner Hoheit und ihm aufgetreten sei) inständigst gebeten, dafür zu sorgen, daß die kostbaren Bücherschätze nicht zerstreut würden. „Jetzt ist es eben so weit, lieber Leibniz“, hatte Johann Friedrich, als Leibniz seinen Vortrag beendigt hatte, lachend geantwortet. „Derselbe Habbens von Lichtenstern hat nämlich Ihren Auftrag pünktlich befolgt und mir nahegelegt, die Bibliothek Fogels zur Vervollständigung meiner eigenen Bibliothek zu erwerben. Durch eine Fügung des Schicksals ist also Ihr Auftrag auf Sie selbst zurückgefallen. Denn wer kennt meine Bibliothek genau und gründlich? Und wer kennt, wenigstens im wesentlichen, die Bibliothek Fogels? Wohl ein und derselbe Herr Leibniz. Sie werden also nach Hamburg reisen, mein Wertester, und alles ordnen. Wenn man überallhinein die Hände steckt, was auch immer in Europa geschieht, muß man sich solche Folgen gefallen lassen. Sie sollten als Logiker beachten, daß die Zahl der Folgen auch von der Zahl der Ursachen abhängt, die man selbst setzt.“
„Und die neuen hannöverschen Taler?“ hatte Leibniz, beinahe verzweifelt, gefragt.
„Die werden noch einige Monate durch die alten Taler vertreten werden. Also los, Leibniz! Auf, nach Hamburg! Und ich sollte mich sehr täuschen, wenn Sie von dort nicht neue Sensationen mitbrächten außer der Bibliothek Fogels. Bei Ihrer Rückkehr aber wird in Hannover eine Überraschung auf Sie warten. Einzelheiten darüber sind vorläufig mein Geheimnis und ich helfe Ihnen nicht einmal durch eine Andeutung, das Rätsel zu ergründen. Zweck dieses Geheimnisses ist es, Ihre Spannkraft zu erhöhen. Denn Sie machen schon ein Gesicht wie ein Verurteilter.“ Und der Herzog hatte Leibniz wieder einmal zärtlich die Wange getätschelt und noch höchstpersönlich für ein verschwenderisches Reisepauschale gesorgt.
Herzog Johann Friedrich hatte richtig prophezeit. Schon nach wenigen Tagen war Leibniz in Hamburg in geistige Abenteuer aller Art geraten. Zuerst hatte ihn der Ankauf der Bibliothek Fogels mit Gelehrten wie Siverus, Placcius und Vagetius zusammengeführt, und die Diskussionen wollten kein Ende nehmen. Besonders mit Vagetius hatte er sich rasch angefreundet. So daß ihn dieser bald würdig fand, Einblick in den riesigen Nachlaß des Polyhistors Joachim Jungius zu nehmen, eines Mathematikers und Naturforschers, dessen geistiges Profil sich vor Leibniz von Tag zu Tag zu riesenhafterer Größe weitete, so daß er keinen Anstand nahm, Jungius mit Kopernikus und mit Galilei auf eine Stufe zu stellen. War Jungius doch, neben allem andren, der erste, der eine Kunstsprache der Botanik eingeführt und die Begriffe von Art und Gattung im Pflanzenreiche unterschieden hatte. Und Leibniz drang, je mehr er sich in den Nachlaß des Jungius vertiefte, desto nachdrücklicher in Vagetius, diese Schriften zu ordnen, zu sichten und herauszugeben; gleich, als ob er vorgeahnt hätte, daß sie in wenigen Jahren durch eine Feuersbrunst vernichtet werden würden, bevor sie in eine Offizin gelangten.
Aber nicht nur die Gelehrsamkeit füllte die allzukurzen Hamburger Tage Leibnizens. Auch der Handel und die Manufaktur der Hafenstadt, ihre Bedeutung als Einfalls- und Ausfallstor des deutschen Nordens, berauschte ihn in ähnlicher Art wie seinerzeit das Erlebnis Amsterdams. Und er wanderte zwischen uralten Faktoreien, zwischen den Kirchen, deren kupferbeschlagene Türme eine merkwürdig grellgrüne Patina bedeckte, zwischen den Fleets und den Matrosenkneipen, hinaus zu den Ankerplätzen in der Elbe, wo Schiffe nach fernsten Ländern aussegelten, oder aus solchen Ländern, schwer beladen, einlangten. Und seine Gedanken umrasten sogleich den Erdball und fügten Hamburg als wichtiges Emporium in seine Träume des großen einigen deutschen Reiches ein.
Nach wenigen Tagen aber meldete sich schon ein neues, in seinen Folgen noch gar nicht absehbares Ereignis. Kaufmann Brand, der überglückliche Entdecker des Phosphors, der im Besitze seiner Pension stolz nach Hamburg zurückgekehrt war, schien, um sich vor seinen Mitbürgern zu rehabilitieren, ein wenig mehr über seine Erlebnisse in Hannover geplaudert zu haben, als es mit den Absichten Grotes und Leibnizens vereinbar war. Denn plötzlich war der große Chymist Joachim Johann Becher, von dem ganz Hamburg glaubte, daß er ein vollendeter Adept sei, aus seiner sonst bekundeten hochfahrenden Reserve herausgetreten und suchte, ebenso leidenschaftlich wie unverblümt, die nähere Bekanntschaft Leibnizens. Und dies mit dem offen einbekannten Zweck, engere Fühlung zum „erleuchteten“ Hof von Hannover zu bekommen, der „notorisch“ unter allen Höfen, die die Große Kunst forderten, heute an allererster Stelle rangiere.
Als Leibniz durch Vermittlung des Vagetius diese bombastischen Einführungsworte zugetragen erhielt, suchte er, einer bösen Ahnung folgend, sogleich den selbstberauschten Brand auf. Und erhielt schon nach einer Stunde die Gewißheit, daß sich Brand vor Becher mächtig gebrüstet hatte. Leibniz machte dem armen Brand keine allzugroßen Vorwürfe; beschloß aber, vor Becher doppelt auf der Hut zu sein. Denn der sechsundvierzigjährige Becher, der auf der Höhe seines Lebens und seiner Erfolge stand, bedeutete nicht nur für Hannover, sondern auch für Leibniz selbst eine Gefahr, da sein Genius nur noch durch seine Skrupellosigkeit übertroffen wurde.
Becher war durchaus nicht nur Chymist. Er war ein Feuergeist und ein Tatmensch. Hatte schon in fast allen großen Städten Europas gewirkt. Und verfolgte ähnliche Ziele wie Leibniz, nur vielleicht weniger im Interesse der Sache, als einem zügellosen Tatendurst folgend. In Wien war er schon vor vielen Jahren kaiserlicher Reichshofrat geworden, da er, neben andren Diensten, die Gründung einer österreichisch-ostindischen Handelsgesellschaft eingeleitet hatte. Und er hatte riesige Bergwerkunternehmungen in Deutschland, Holland und England eingerichtet, hatte zuerst die Erzeugung von Koks und Teer aus der Steinkohle in großen Maßen aufgenommen, und hatte sich überall in die Ordnung des Münzwesens eingemischt. Aber damit nicht genug. Eben jetzt saß er in Hamburg, um den Kartoffelbau im Norden Deutschlands zu propagieren und, wie er sagte, aus Ödland Reichtumsquellen zu zaubern. Er war ein Magier, der von überallher die Erdgeister beschwor und nicht ruhte, bis sie seinem Dienste fronten.
Dabei war Leibniz schon bei der ersten Zusammenkunft der eigentümlichen Macht dieses Menschen beinahe unterlegen. Seiner schlangenhaften, liebenswürdigen Glätte war nicht beizukommen, kein Anzeichen deutete auch nur entfernt auf Hinterhältigkeit, und die an zahlreichen Höfen erworbenen und bis ins feinste ausgebildete Gewandtheit seiner Umgangsformen machte ihn vollends unangreifbar. Dabei war er, Leibniz gegenüber, alles eher denn zugeknöpft. Er zeigte ihm sofort zahllose, zum Teil vollständig neue, verblüffende chyrnische Experimente, unterhielt sich mit ihm Stunden lang über mechanische und wirtschaftliche Pläne, erläuterte ihm ausführlich alle neuen Methoden, die er in seinen Bergwerken eingeführt hatte, und gab sogar sein tiefstes Geheimnis preis. Das Geheimnis nämlich, daß er auf dem besten Wege sei, das uralte Rätsel der Verbrennung zu lösen. Und daß ihn auch der Phosphor in seinen Ansichten durchaus nicht verwirrt, sondern eher bestärkt habe. Und er zeigte sofort Versuche mit dem neuen Phosphor, die Leibniz gänzlich aus der Fassung brachten, da sie alle Probleme wieder auf andre Ebenen schoben.
Becher lächelte eigentümlich, als er Leibnizens Erstaunen bemerkte, sprach jedoch nicht ein Wort weiter über diesen Gegenstand, sondern überschüttete Leibniz neuerdings mit unerhörten Dingen aus anderen Bereichen.
Nach einigen Zusammenkünften erschien sich Leibniz diesem Manne gegenüber, besonders auf den Gebieten der Alchimie, des Bergbaues und der Manufaktur, als vollkommener Stümper. Und es kroch ihn fast eine Angst an, was erfolgen werde, ja erfolgen mußte, wenn dieser Becher den Hof Johann Friedrichs betrat. Gut, als Philosoph, Mathematiker, Historiker war er Becher unbedingt überlegen. Von der Jurisprudenz und Theologie gar nicht zu sprechen. Aber würde er, Leibniz, vor Johann Friedrich nicht zu einem Lumen sehr minderer Leuchtkraft verblassen, wenn sich gerade auf den Gebieten, die seine jetzige Tätigkeit bildeten, der große Fachmann Becher zeigte? Durfte er aber wieder solche kleinliche Bedenken auch nur einen Augenblick dem Interesse des Vaterlandes, dessen vollbürtiger Sohn auch Joachim Becher war voranstellen? Nein das durfte er nicht. Und das wollte er auch nicht. Gleichwohl, und wenn er jedes solche Motiv auch überwunden und ausgeschaltet glaubte, blieb noch ein rätselhafter Widerstand in ihm. Etwa der Widerstand eines Vaters oder Bruders, einen blendenden Kavalier in die Gesellschaft der Tochter oder Schwester einzuführen. Ja, das war es. Becher war ein Bezauberer, eine Verführernatur. Man mußte seine riesenhafte Kunst staunend und neidlos anerkennen, wußte aber in keiner Minute, welchen Zwecken sie eigentlich dienen würde und dienen sollte. Alter Aberglaube vom Bündnis des Chymisten mit dem Teufel? Alte Alchirnistenrnärchen? Rückstände aus einer gar nicht so lang zurückliegenden Zeit, in der sich, in eben dieser Wissenschaft der Stoffe und Verwandlungen, der pure Betrug mit der Geheimtuerei zu einem unentwirrbaren Satansgeflecht verbunden hatte? Leibniz konnte sich auf diese Fragen keine Antwort geben. Wußte zudem noch nicht, ob Becher nicht längst anderen Sinnes geworden war, da er von einer Reise nach Hannover bisher noch mit keinem Worte gesprochen hatte. Allerdings war dieses lange Schweigen wieder doppelt verdächtig, wenn er später erst mit seinem schon gleich zu Beginn angekündigten Plan herausrückte.
Aber auch diese Klippe übersprang Joachim Becher beinahe spielerisch. Mitten während eines herrlichen Experimentes sagte er ganz nebenhin zu Leibniz: „Das vollzieht sich natürlich alles nur auf der unteren Ebene meiner Kunst. Gleichsam außerhalb des Vorhangs, wie der große Pythagoras es benannt hat. Die wesentlichen Experimente, die eigentliche Legitimation meines chymischen Ranges, werden Sie in Hannover sehen, wenn ich sie dem durchlauchtigsten Herzog vorführe. Und ich wäre schon längst nach Hannover abgereist, wenn ich nicht Ihre Abreise abwarten müßte. Denn es wäre mehr als illoyal, den liebenswürdigen Vermittler um dieses alchimistische Spectaculum oberster Ordnung zu prellen.“ Und er goß ruhig, als ob alles geordnet und beschlossen sei, frische leuchtende Flüssigkeit in ein Probierglas und verwandelte ihre grellrote Farbe durch die beinahe unsichtbare Spur eines grauen Pulvers in sattes Blau. Dann erzählte er unaufhaltsam über die Bedeutung des Teers für die Schlagfertigkeit der englischen Kriegsflotte und verlor sich in Phantasien, wie sich eine Welt gestalten würde, in der die Geschwindigkeit aller Verkehrsmittel auf ein Vielfaches gesteigert wäre. Leibniz, in dessen Hirn allerlei Eindrücke sich mit verantwortungsvollen Überlegungen kreuzten, in welcher Form er die Einführung Bechers in Hannover einleiten sollte, die ja kaum mehr zu verhindern war, griff achtlos die letzten Ausführungen Bechers auf und gestand, daß er selbst sich schon oft mit ähnlichen Problemen beschäftigt habe. Er sei aber zum Schluß gekommen, daß man zwar das Endziel traumschneller Überwindungen räumlicher Entfernung nie aus den Augen verlieren dürfe; wie ja schon Homer den Schiffen der Phäaken solche Wundereigenschaften beigelegt habe; der Traum also sei uralt; gleichwohl, und das wolle er eigentlich sagen, müsse man der harten Wirklichkeit gegenüber Schritt vor Schritt vorgehen. Aus zahlreichen kleinen Verbesserungen könnte eine mächtige Summe resultieren. So habe er selbst einige mechanische Neuheiten an Reisewagen ersonnen, die jede Reise nicht nur bequemer, sondern reichlich schneller gestalten würden. Er habe sich nach solchen Verbesserungen auf einer seiner mühseligsten Reisen, der Fahrt von Amsterdam nach Hannover, geradezu gesehnt. „Auch mir ist das Reisen mit den heutigen Mitteln nicht stets ein Vergnügen“, hatte Becher unaufmerksam erwidert. „Und eben ich bin verdammt, Europa kreuz und quer zu durchfahren. Gottlob ist Hannover nicht sehr weit. Ich will es mir dort verdienen, wieder für einige Zeit seßhaft zu werden.“
Leibniz hatte sich kurz darauf empfohlen. Also „seßhaft“ wollte der unangreifbare Zauberer in Hannover auch noch werden? Was sollte er tun? Durfte er diese Riesenkraft seinem Herzog vorenthalten? Es war das beste, wenn er sofort seine Eindrücke von Becher wahrheitsgetreu, ohne jede Verkleinerung oder Beschönigung, dem Herzog und Grote berichtete. Das „Miracle de recherche“ möge dann das Seinige dazu beitragen, das Vorleben Bechers und seine Vertrauenswürdigkeit aufzuhellen. Er selbst, schrieb er weiter, fühle sich vorläufig außerstande, jenseits vager Gefühle, diesem Mann irgend etwas andres nachzusagen, als daß er ein Fachmann sei, der an Leméry in Paris oder an Boyle in England heranreiche, wenn er diese beiden nicht sogar noch weit übertreffe. Jedenfalls sei Becher weder ein Kommerzienrat Kraft, noch ein Kunckel, noch ein Brand. Und er, Leibniz, werde sich neidlos dem höheren Können auch auf Gebieten beugen, deren Bearbeitung ihm jetzt übertragen sei. Werde aber, trotz oder eben infolge dieser Gesinnung, die Tätigkeit Bechers in Hannover, sofern Seine Hoheit dies nicht verbiete, mit wachsamstem Mißtrauen verfolgen, obgleich er noch einmal zugebe, daß er für sein Mißtrauen keinen Vernunftgrund ins Treffen führen könne.
In ähnlichem Sinne schrieb er einen zweiten Brief an Otto von Grote und erbat schleunigste Antwort, da er seinen Hamburger Aufenthalt wegen der Angelegenheit der Zellerfelder Bergwerke nicht mehr allzulange ausdehnen dürfe, obgleich in Hamburg noch mehr als genug zu durchforschen und zu entdecken wäre.
Überraschend schnell traf die Antwort, und zwar eine formelle Einladung an Joachim Becher in Hamburg ein, und Becher reiste gemeinsam mit Leibniz ab, der die kostbarsten Stücke der Fogelschen Bibliothek kurzer Hand auf den Reisewagen laden ließ, nachdem er den Transport der übrigen Bücher sorgfältig vorbereitet und angeordnet hatte.


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