Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 275c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.


29. Politisch-theologische Seitenpfade[editar]

Spinoza hatte sich wieder gesetzt. Er schien die letzten Worte Leibnizens nicht gehört zu haben. Denn er sagte unvermittelt:
„Sie haben in Paris vielleicht vom unglücklichen Arzt und Philosophen Van den Ende gehört. Sie waren ein Mann, der Zutritt zu höchsten Kreisen hatte. Was hat man über diesen Märtyrer dort bei Wein und Leckerbissen gesprochen?“ Und er packte Leibniz mit einem furchtbaren Blick.
Leibniz senkte den Kopf, um nicht gerade in diesem Moment Spinoza eine Verstimmung über die wiederholten Anspielungen auf sein Hofleben zu zeigen. Er bezwang sich auch in Ton und Ausdruck, da er wußte, daß Van den Ende Spinozas Freund und Lateinlehrer gewesen war. Und daß noch tiefere Zusammenhänge von Spinoza zur Familie des unseligen Arztes hinüberspielten. So sagte er einfach:
„Ich habe den blendenden Gelehrten Van den Ende persönlich gekannt. Ich besuchte ihn einige Male.“
„Waren Sie mit ihm befreundet?“ Wieder kam seltsame Hast in die Worte Spinozas.
„Befreundet? Nein, das nicht, Herr Spinoza.“
„Warum?“
„Weil es das Schicksal und die tiefe Verschiedenheit unsrer Geister nicht gewollt hat. Ich glaube, daß Van den Ende keinen besonderen Wert auf meine Freundschaft legte.“
Spinoza stand auf und ging im Zimmer auf und nieder. Unvermittelt blieb er stehen.
„Ich habe ihn mit vollem Bewußtsein einen Märtyrer genannt, Herr Leibniz“, sagte er scharf. „Und das, weil ich vermute, daß er kein Verbrechen beging, sondern einfach den Ranken religiöser Fanatiker zum Opfer fiel. Ich selbst weiß aus Erfahrung, was solcher Fanatismus bedeutet. Davon später. Es wird nötig sein, Ihnen die Augen weit zu öffnen, Herr Leibniz. Denn sogar Sie, als Nicht-Fanatiker, mieden anscheinend Herrn Van Ende wegen der Freiheit seines Geistes. Ich verstehe wenigstens Ihre letzte Antwort in diesem Sinne.“
Leibniz schwieg einen Augenblick. Gewiß. Was ihn selbst betraf, war Spinoza nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Er, Leibniz, hatte sich in der Tat mit dem philosophischen Arzt in tieferen Fragen nicht verständigen können. Gleichwohl aber irrte Spinoza in der Hauptsache. Van den Ende war durchaus nicht wegen seiner Überzeugungen verfolgt worden. Schließlich, warum sollte Spinoza nicht all das wissen, was er bei „Wein und Leckerbissen“ erfahren hatte? Darum erwiderte er:
„Ob es für Sie ein Trost ist, die Wahrheit zu hören, sofern man Berichte über einen geheimen Staatsprozeß als Wahrheit ansprechen kann, ist mir nicht klar. Ich weiß auch nicht, ob es tröstlicher ist, wenn ein edler Mensch und ein Freund unschuldig oder wenn er als wirklich Schuldiger gerichtet wurde.“
„Ich will die Wahrheit hören und nicht getröstet werden, Herr Leibniz! Der gräßliche Tod meines Freundes ist ein Schatten, der seit zwei Jahren über mir liegt. Es ist nicht der erste derartige Schatten. Auch den herrlichen Jan de Witt haben sie mir erschlagen.“
„Jan de Witt war Ihr Freund?“
„Gewiß, er war es. Aber sprechen wir zuerst von Van den Ende. Wenn es die Rücksicht auf Ihr Land gestattet.“
„Ich bin ein Deutscher, Herr Spinoza. Und weder ein Franzose noch ein Söldling oder Unterhändler Frankreichs.“
Spinoza setzte sich. Dann sagte er sehr milde und wehmütig:
„Verzeihen Sie. Vielleicht hat mich jetzt mein leider nur allzuberechtiges Mißtrauen fortgerissen, vielleicht mein großer Schmerz, vielleicht auch habe ich Ihre Absichten mißverstanden. Es schien mir so, als ob es Ihnen nicht angenehm wäre, über diesen Staatsprozeß zu sprechen.“
„Es war mir nicht angenehm, Herr Spinoza, Ihren Schmerz zu vergrößern.“
„Ich betonte schon, daß die volle Wahrheit, wie sie auch immer sein mag, am Verlust des Freundes nichts ändert. Ich wollte auch bloß wissen, ob der Prozeß auf Grund von Tatsachen oder von Verleumdungen und Intrigen geführt wurde.“
„Auf Grund von Tatsachen, Herr Spinoza.“ Leibniz machte eine kleine Pause, um den Bericht möglichst kurz zu formulieren. Dann sagte er schnell: „Die Vorgeschichte ist sehr verworren. jedenfalls spielte die Härte des französischen Kriegsministers Louvois dabei eine große Rolle.“
„Desselben Herrn Louvois, dessentwegen auch deWitt sterben mußte“, unterbrach Spinoza. „Aber sprechen Sie jetzt weiter.“
„Es war eine sonderbare Verschwörung“, setzte Leibniz fort. „Herr von Trêaumont, der tief verschuldete normannische Edelmann, dem die Fronde noch im Blut stak und der sich mit Gewalt von Schulden und Widersachern befreien wollte. Sein Neffe Préaux und dessen Geliebte, die Frau von Villiers. Der Oheim lockte den Neffen, der Neffe die Geliebte ins Komplott. Und dazu noch der Oberstjägermeister, der Chevalier von Rohan, den eben Herr Louvois, der Kriegsminister, in einer Audienz schwer beleidigt hatte. jeder dieser Verschworenen hatte ein anderes Motiv: Schulden, Gehorsam, Liebe, Rachsucht. Und schließlich der Patriot Van den Ende, der Mittelsmann und Unterhändler, der seinem Lande, Ihrem Vaterland, Herr Spinoza, dienen wollte.“
„Also doch ein Märtyrer, Herr Leibniz.“
„Von hier, von Holland aus gesehen, ja, Herr Spinoza, für Frankreich, in dem er trotz des Krieges Gastfreundschaft genoß, war seine Tat ein Verbrechen. Oder sagen wir milder, ein feindlicher Akt.“
„Nun, und was bezweckte die Verschwörung?“ Spinozas Ton war wieder schärfer geworden.
„Man wollte nichts weniger, als die Stadt Quillebeuf den Holländern in die Hände spielen.“
„Vielleicht nur eine Phantasie, ein Hirngespinst.
„Nein, Herr Spinoza. Es war ein furchtbarer Flankenstoß, den die Verschworenen planten. Sehen Sie einmal eine Landkarte an, Herr Spinoza. Quillebeuf liegt an der Mündung der Seine, und de Ruyter hätte von da aus Le Havre und Paris gleichzeitig bedrohen können. Man fand all diese Pläne im Gepäck des Grafen de Monterey, der ja in der Schlacht von Senef die spanischen Niederländer befehligte. Diese zufällige Eroberung des Gepäcks war ein entscheidendes Glück des französischen Heerführers, des Herzogs von Condé.“
„Und dabei fand man Briefe meines Freundes? Oder der anderen Verschworenen?“
„Man fand ähnliches, Herr Spinoza. Einen Vertrag mit Tréaumont und eine Unzahl sehr konfuser und unverständlicher Briefe, in denen fortwährend von Paketen, von Diamanten, von Heilmitteln, von Effekten und ähnlichem die Rede war. Dabei waren in einem fort die Namen des Schwiegersohns und der Töchter des Herrn Van de Ende erwähnt. Leider stieß man unter all den Briefen schließlich auf einen Chiffreschlüssel, der plötzlich all den konfusen Schriftstücken Sinn verlieh. Und die Diamanten stellten sich als Hilfsgelder, die Effekten als Waffen, die Pakete als Kriegsschiffe und die Namen aus der Familie Ihres Freundes als Decknamen der Verschwörer heraus.“
Spinoza fuhr auf:
„Hat man durch diese Decknamen den Verdacht nicht bloß auf den Holländer Van Ende schieben wollen? Es ist doch heller "Wahnsinn, die Familienmitglieder eines Mitverschworenen als Decknamen zu benützen. Van Ende wird doch nicht die eigenen Töchter und den Schwiegersohn durch solche Machenschaften hineingezogen haben?!“
„Wer diesen Chiffreschlüssel ersann, weiß ich nicht“, erwiderte Leibniz nachdenklich. „Ich stimme aber Ihrer Ansicht zu. Es ist das alles wirklich schwerverständlich. Aber man sagt, Van den Ende habe ein Geständnis abgelegt. Allerdings wurde berichtet, das fällt mir jetzt ein, daß Herr von Rohan höchst peinlich berührt war, als er bei der Hinrichtung Van Ende erblickte. Man deutete es so, daß er es als Franzose schimpflich empfand, zugleich mit dem Feind des Landes zu sterben. Andre wieder behaupteten, er habe es bereut, einen Patrioten ins Unglück gerissen zu haben.“
„Und die Töchter Van Endes?“ Spinozas Antlitz überzog sich mit fleckiger Röte.
Leibniz ahnte die Bedeutung dieser Erregung. Tschirnhaus hatte ihm einmal angedeutet, daß die einzige Liebe im Leben des Weisen einer Tochter Van Endes gehört habe.
„Sie wurden nicht in den Prozeß gezogen, da ihre Unschuld klar zu Tage lag“, antwortete er schnell.
Spinoza sah zu Boden. Dann sagte er kalt:
„Ich werde Sie nicht mehr unterbrechen, Herr Leibniz. Ich will nur noch wissen, ob alle Angeklagten Geständnisse ablegten. Vielleicht kann ich aus weiteren Einzelheiten meine eigenen Schlüsse ziehen.“
„Es spielten sich furchtbare Dinge ab, Herr Spinoza, mit denen ich Sie verschonen wollte“, sagte Leibniz leise. „Tréaumont wurde bei der Verhaftung erschossen. Rohan, Préaux und Frau de Villiers, sowie Van den Ende wurden in die Bastille gebracht. Und nun umkreisten Nacht für Nacht die Freunde Rohans mit Sprachrohren trotz aller Gefahr die Bastille und riefen: ,Tréaumont ist tot und hat nichts gesagt.‘ Und es wären auch alle gerettet gewesen, wenn Rohan diese Rufe gehört und verstanden hätte. Der Untersuchungsrichter de Bezons aber hörte und verstand die Rufe. Und er betrog Rohan und sagte ihm im Namen des Königs Begnadigung zu, wenn er gestehen würde. Rohan vertraute auf sein Ansehen bei Hof und gestand. Und erfuhr erst den Betrug, als es zu spät war. Und dadurch erst wurden die Dokumente beweiskräftig. Denn unmittelbar kompromittiert war ja nur Tréaumont gewesen. Rohan und die anderen waren in den Chiffrebriefen bloß erwähnt. Es hätte also auch Fiktion oder eine Doppelchiffre sein können, nach der diese willkürlich gewählten Namen erst dritte Unbekannte bedeuteten. Jedenfalls wurden alle Angeklagten enthauptet und Van Ende gehenkt. Es waren grausige Tage, Herr Spinoza. Ich kannte alle Angeklagten persönlich.“ Leibniz schwieg.
Spinoza war steinern ruhig geworden. Er erwiderte erst nach langer Pause:
„Bevor wir uns aus diesem furchtbaren Meer von Tränen, das die Erde genannt wird, in die klaren und leidenschaftslosen Höhen der Philosophie flüchten wollen, werde ich Ihnen noch kurz einige andre Dinge erzählen, die kaum erfreulicher sind als dieser Staatsprozeß. Ich sagte schon, daß eben jener Kriegsminister Louvois hiebei eine Rolle spielt, der den unseligen Rohan ins Verderben jagte. Der Beherrscher der holländischen Republik, der Großpensionär De Witt, mein Freund, hatte damals gegen den Willen des Prinzen von Oranien Friedensunterhändler zu Louvois gesandt. Louvois demütigte die Unterhändler und stellte ihnen unmögliche Bedingungen. Das dürften Sie alles wissen. Dürften auch wissen, daß daraufhin der Pöbel hier im Haag Jan de Witt und seinen Bruder Cornelis buchstäblich in Stücke riß. Was Sie aber nicht wissen, Herr Leibniz, ist, daß ich in der Nacht, die der Untat folgte, in der Nähe des Tatortes einen Anschlag anbringen wollte, auf dem ich mit riesigen Buchstaben die Worte ,ultimi barbarorum‘, ,die Letzten der Barbaren‘ aufgemalt hatte. Es kam nicht dazu, da mich mein Hauswirt einschloß, als er davon erfuhr. Er behauptete, auch ich würde niedergemetzelt werden. Die Mörder der Brüder De Witt aber sind bis heute noch nicht bestraft worden. Es ist vier Jahre, seit sich dies alles begab. Es ist also nur ein Zufall, daß nicht auch ich ebenso schuldlos gefallen bin wie die De Witts und Van den Ende und wie alle, die das sagen müssen, was sie denken.“
Spinoza war aufgestanden und ging langsam gegen den Hintergrund des Zimmers, wo er sich bückte, die schwere Lade eines Kastens aufschloß und dieser einige Papiere und eine Pergamentrolle entnahm.
Leibniz, der noch unter dem Eindruck des wilden Tones der letzten Worte stand, wurde von einem Wirrsal von Überlegungen angefallen, die alles wieder zum Leben erweckten, was die Dämonen der Philosophie ihm zugeraunt hatten. Er wollte auf die versteckten und doch deutlichen Angriffe Spinozas jetzt nicht antworten. Warum? Etwa aus Angst, sein eigentlichstes Interesse, die philosophische Auseinandersetzung mit dem Weisen, zu gefährden? Nein, es war keine Angst. Denn auch diese zweite Auseinandersetzung würde die tiefe Kluft, die zwischen ihnen lag, nicht schließen, sondern höchstens verbreitern. Was aber war diese Kluft? Hier, nur hier lag die Lösung des Rätsels. Diese Kluft ließ sich nicht streng und logisch begründen. Sie lag in den Ebenen des Gefühls. Aber vielleicht auch nicht dort. Sie lag irgendwo in Nebelzonen, zu denen man nicht durchstoßen konnte. Heute noch nicht. Durfte aber ein Philosoph „Nebelzonen“ gelten lassen? War da Spinoza nicht nach allen Regeln im Recht, wenn er Schweigen für Zustimmung nahm? Oder gab es auch ein „anonymes Problem“ der Weltweisheit, das Leibniz jetzt schon ahnte, dessen Algorithmus er jedoch noch nicht gefunden hatte?
Es betraf die Freiheit, so viel stand fest. Und betraf Leeuwenhoek und dessen Widerstand gegen die Cartesianer. Aber was sagte das?
Freiheit! War vielleicht auch die Freiheit nichts anderes als ein unendliches Continuum, eine Stufenleiter von vollster Zügellosigkeit bis zu knechtischer Gebundenheit? Eine Stufenleiter mit Zehntausenden von Stufen? Wer war frei? War es nicht wieder tiefste Unfreiheit für einen Menschen, der glauben wollte, dessen Auge, dessen Seele untrügliche Wahrheiten bejahte, wenn dieser Mensch durch zwingende logische Beweise in den Bann der „Freiheit“ gezwängt wurde, wenn ihm auch hier wieder Dogmen entgegentraten, aus denen er angeblich erlöst wurde? Dogmatik unter dem Deckmantel der Freiheit? Mußte immer eine Zone des Gemütes auf Kosten der anderen herabgesetzt werden? Gab es nicht Gleichberechtigung aller Gemütskräfte, die Gott dem Menschen einpflanzte?
Und sah der Wert der Freiheit nicht sofort ganz anders aus, wenn man den Einzelnen aus dem Vordergrund rückte und die Allgemeinheit, das allgemeine Wohl der Gegenwart und Zukunft an die Spitze der Werte stellte? Und waren weiter nicht Verwechslungen möglich? Konnte nicht ein edler Mensch, ein Einzelner, der aus purem Instinkt nach den Gesetzen lebte, und der deshalb nicht in die Rechte der anderen und der Gesamtheit eingriff, der Einbildung erliegen, daß sein „freies“ Denken und Sprechen unschädlich sei, weil es ihn selbst nicht zu schädlichen Taten verleitete? Während seine Worte in anderen Menschen weit andre Triebe und andre Schlüsse erweckten und erzeugten?
Überall ungelöste Rätsel. Rätsel in der eigenen Brust, im Leben und Handeln der Menschen, im Lauf der Geschichte.
Spinoza entrollte eben das Pergament und stand schon vor ihm.
„Es liegt zwanzig Jahre zurück, dieses Manifest der Unduldsamkeit“, sagte der Weise und blickte Leibniz wieder mit seinem traurigen Lächeln fest in die Augen. „Ich werde es Ihnen vorlesen, da Sie die hebräische Sprache wahrscheinlich nicht verstehen. Man hat diesen Cherem - in Ihrer Religion heißt das wohl der große Bann - über mich verhängt, als ich mich der Strenggläubigkeit meiner Gemeinde nicht fügen konnte und nicht fügen wollte. Ich konnte mich nicht fügen, denn schon als Fünfzehnjähriger entdeckte ich Widersprüche und Probleme im Alten Testament, die niemand mir zu lösen imstande war. Und ich fand auch weder bei Maimonides noch bei den kabbalistischen Schwätzern Aufklärung. Ich wollte mich aber nicht fügen, da man mich verleumdete, anklagte, mit Geld lockte und mir schließlich einen Mordbuben sandte, der allerdings schlecht traf und nur meinen Mantel durchstach. Da griff man zum letzten Mittel, zum großen Bann. Ich halte ihn hier in der Hand. Er lautet:
,Die Herren des Vorstandes tun Euch zu wissen, daß sie, längst kundig der schlimmen Gesinnungen und Handlungen des Baruch de Espinosa, durch verschiedene Mittel und auch durch Versprechungen bemüht waren, ihn von seinen bösen Wegen abzulenken. Da sie aber nichts ausrichten konnten, im Gegenteil täglich immer neue Kenntnis von seinen durch Wort und Tat bekundeten entsetzlichen Irrlehren und Freveln erhielten und dafür viele glaubwürdige Zeugen hatten, die in Gegenwart des genannten Espinosa ihr Zeugnis ablegten und ihn überführten, so haben sie dies alles vor den Herren Rabbinern geprüft und mit deren Zustimmung die Ausstoßung des genannten Espinosa aus dem Volke Israel beschlossen und belegen ihn mit folgendem Cherem: Nach dem Urteile der Engel und dem Beschlusse der Heiligen bannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir den Baruch de Espinosa mit der Zustimmung Gottes und dieser heiligen Gemeinde im Angesichte der heiligen Bücher der Thora und der sechshundert dreizehn Vorschriften, die darin geschrieben sind: Mit dem Banne, womit Josua Jericho gebannt, mit dem Fluche, womit Elisa die Knaben verflucht hat, mit allen Verwünschungen, die im Gesetze geschrieben stehen. Er sei verflucht bei Tag und verflucht bei Nacht! Er sei verflucht, wenn er schläft und verflucht, wenn er aufsteht! Er sei verflucht bei seinem Ausgang und sei verflucht bei seinem Eingang! Der Herr wolle ihm nie verzeihen! Er wird seinen Grimm und Eifer gegen diesen Menschen lodern lassen, der mit allen Flüchen beladen ist, die im Buche des Gesetzes geschrieben sind. Er wird seinen Namen unter dem Himmel vertilgen und ihn zu seinem Unheil von allen Stämmen Israels trennen, mit allen Flüchen des Firmaments, die im Buch des Gesetzes stehen. Ihr aber, die ihr an Gott eurem Herrn festhaltet, möget alle leben und gedeihen! Hütet euch, daß niemand ihn mündlich oder schriftlich anrede, niemand ihm eine Gunst erweise, niemand mit ihm unter einem Dach, niemand vieler Ellen weit von ihm verweile, niemand eine Schrift lese, die er gemacht oder geschrieben!“ Spinoza schwieg einen Augenblick. Dann hob er den Kopf und sagte: „Mein Verbrechen bestand damals wohl hauptsächlich darin, daß ich bei Van den Ende das Lateinische erlernt und den Cartesius studiert hatte, dessen Lehren mich von den Umklammerungen meines Denkens durch starren Glaubenszwang erlösten. Trotzdem war es nicht leicht, um der Wahrheit Willen das eigene Volk zu verlieren.“ Wieder machte Spinoza eine Pause. Dann schloß er: „Sie wissen, Herr Leibniz, daß ich, ungehindert durch den großen Fluch, mein Hauptwerk, die Ethik, vollendete. Es liegt hier, in den Fächern dieses Schreibtisches. Ich konnte es bisher nicht der Welt bekanntgeben, da auch die freien Niederlande dazu noch nicht reif sind. Ich war vor einem Jahr in Amsterdam, um den Druck des Buches zu betreiben. Dort erfuhr ich, daß die Theologen aller Bekenntnisse, einmütig mit den Cartesianern - hören Sie gut diesen Hohn des Schicksales - gegen meine Absicht geschürt hatten, bevor ich noch nach Amsterdam kam. Ich zog hierauf das Manuskript zurück, und das Werk mag erscheinen, wann es will. Meinen Freunden ist es bekannt. Und es wird trotz allem seine Wirkung tun, da sich die Wahrheit niemals unterdrücken läßt.“
Spinoza kehrte sich jäh ab und ging zum Schrein zurück, dem er das Pergament entnommen hatte.
Leibniz aber blickte durch das Fenster in den fahlen, sinkenden Tag hinaus. Der gräßliche Fluch hatte ihn tief erschüttert. Verließen und verfluchten alle Gefüge menschlicher Ordnung diesen Mann? Auch die Cartesianer, deren Leuchte eben dieser selbe Spinoza durch sein Erstlingswerk gewesen war? Durch jenes System des Cartesius, abgeleitet in geometrischer, also unanfechtbarer Art?
„Man spricht in Paris davon“, begann Leibniz leise, als Spinoza zurückkam und sich verdüstert in seinem Stuhl niederließ, „man sagt, daß auf hohen Schulen Frankreichs der Vortrag der Lehre des Descartes demnächst bei höchster Strafe verboten werden solle. Sonderbar, daß diese selben Cartesianer hier gemeinsam mit der Kirche, die sie in Frankreich bekämpft, Bannflüche austeilen.“
„Es ist nicht so sonderbar.“ Spinoza horchte auf. „Ich wundere mich, daß gerade Sie es für sonderbar erklären, der von mir schon so viel weiß. Ich bin eben ein vielfach Abtrünniger. Abgefallen vom Judentum, abgefallen von der Freiheit des Willens, abgefallen von der Zweiheit, von der Unterscheidung alles Seienden in Ausdehnung und Denken. Doch die Lehre des Cartesius brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern. Diese durchaus fehlerhafte Irrlehre...“
„Ich bekämpfe bisher vor allem die Bewegungslehre des Cartesius. Sie ist falsch und steht mit den einfachsten Tatsachen in Widerspruch.“ Leibniz versuchte das Gespräch abzubiegen.
„Darüber können wir später diskutieren“, erwiderte Spinoza unerbittlich. „Es wird mich Ihre Ansicht besonders interessieren, da ich gerade diesen Teil des Cartesianismus für wichtig und richtig ansah. Wie gesagt, später. Jetzt aber will ich Ihre Stellungnahme zum ersten Grundsatz meiner Weltansicht kennen. Gibt es die drei Substanzen Gott, Ausdehnung und Denken, also eine unerschaffene und zwei erschaffene Substanzen, wie Cartesius lehrt, oder gibt es nur eine einzige, aus sich selbst wirkende Substanz, Gott, deren uns unbeschränkten Menschen erkennbare Attribute eben die Welten des Ausgedehnten und des Denkenden sind?“
Leibniz erschrak. Was sollte er auf diese Frage der Fragen antworten? War das überhaupt eine Alternative, neben der es keine dritte, vierte, fünfte Möglichkeit gab? Mußte man Cartesianer sein oder Spinozist? Gewiß, auf jenem Spaziergang im Rosental hatte er sich von den „Formen“, von den vielfältigen Substanzen des Aristoteles losgesagt und sich für den Mechanismus, nicht weit von der Ansicht des Descartes, entschieden. Aber was bedeutete diese Entscheidung für die vorliegende Frage? War nicht alles in ihm noch in Gärung, da er keine eigene Ansicht den vollendeten Denkgebäuden des Descartes und Spinoza entgegenhalten konnte? Er ahnte seit dem Besuch bei Leeuwenhoek, daß sich seine Erkenntnisse fernab von Descartes und Spinoza entwickeln würden. Aber, und wieder ein aber nach dem anderen - aber es würde doch dem Denker Spinoza, dessen vollendetes Lebenswerk vor seinen Füßen im Schreibtisch lag, sicherlich nur ein mitleidiges Lächeln entlocken, wenn er ihm statt einer Erwiderung von Ahnungen erzählte. Gleichwohl wollte Leibniz dem Kern der Sache nicht mehr ausweichen. Nicht etwa, um ohne Blöße vor Spinoza dazustehen. Nein, weil wieder ein rätselhafter Widerstand in ihm erwacht war, der mit den innersten und tiefsten Dingen seiner Sendung zusammenzuhängen schien. So sagte er langsam:
„Schon bei Descartes erblickte ich in manchen Momenten eine furchtbare Gefahr. Eine Gefahr, die der Mathematiker in mir bemerkte. Ich sah, wie alle Trennungen des Descartes nach Vereinigung strebten. Ist eine solche Vereinigung mühsam getrennter Welten ein Vorteil, ein Höherbau, ein Ziel? Wird nicht eben erst durch Analysis der Weg zu allen weiteren Entdeckungen freigemacht? War es ein Zufall, daß eben der erleuchtete Erfinder der analytischen Geometrie auch zwei Koordinaten seiner Philosophie wählte, anstatt alles wieder zu vereinigen und es wie eine Kurve, die nicht in zwei Abhängigkeiten gebracht ist, jeder näheren Untersuchung, als der bloßen Vermutung zu entziehen? Wird Gott, das ist eine Folge dieser Gedanken, nicht jeder Vollkommenheit entkleidet, wenn man ihn mit der Welt vereinigt? Ich urteile nicht, Herr Spinoza, ich frage.“
Spinoza lächelte eigentümlich. Ein wenig verzerrt. Plötzlich aber packte er Leibniz wieder mit einem abgründigen Blick. Dann sagte er leise:
„Ihre Fragen waren eine Stellungnahme, ob Sie es nun zugeben oder nicht. Ich aber bin nicht der Mann, der ausweicht. Ich wäre vielleicht ausgewichen, wenn Ihre versteckten Angriffe sich auf der gewöhnlichen Ebene des Dogmatischen bewegt hätten. Sie haben viel, viel feiner zugestoßen, Herr Leibniz. Ihre persönliche Mischung aus innerer Freiheit, Gelehrsamkeit und Weltläufigkeit ist doch stärker und gefährlicher, als ich es am Beginn unsres Gespräches annahm.“ Spinoza stand unvermittelt auf. Dann schloß er wie nebenhin: „Ich bin heute schon zu müde, um Ihnen lange und sorgfältige Erklärungen zu geben. Außerdem verträgt es der subtile Gegenstand nach meiner Ansicht nicht, daß man über ihn plaudert. Schließlich muß ich noch einige Brillengläser fertigstellen, da man sie morgen von mir holen wird. Ich werde mich also in den Nebenraum begeben. Antworten aber soll Ihnen mein Lebenswerk ,Die Ethik‘. Nämlich darauf antworten, ob mein Monismus, meine Festsetzung der einzigen Substanz, ein Weg, ein Ziel und ein Höherbau ist. Und ob er die Vollkommenheit Gottes zerstört oder ob er erst recht zu Gott führt.“ Und er bückte sich und entnahm dem untersten Fach seines Schreibtisches das mächtige Manuskript, das er wortlos vor Leibniz hinlegte. Dann kehrte er sich ab, ging aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Nach wenigen Herzschlägen aber hörte man schon das schrille Surren der Drehbank und ein dumpfes Husten, das der erste auffliegende Glasstaub den mißhandelten Lungen des Weisen abnötigte.


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