Curso de alemán nivel medio con audio/Lección 247c

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Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes.

1. Kapitel: Sterbensmüdes Land[editar]

Unter all den frischen Jungen, die an einem sonnigen Apriltag des Jahres 1654 vor der Nicolaischule zu Leipzig lärmten und sich balgten, sah man nur einen blassen Knaben, der von der allgemeinen Freude nicht ganz mitgerissen erschien.
Das Ereignis, das die Knaben heute noch über das gewohnte Maß höher stimmte, war ein vorzeitiger Schluß des Unterrichtes. Soeben hatten die Turmuhren die elfte Stunde geschlagen, und der gestrenge Lehrer Tilemann Bachusius stolzierte vorgeneigt, einen Stoß von Büchern unter dem Arm, zwischen den Schülern durch. Es gab bei ihm zu Hause Kindstaufe. Deshalb hatte er mit höchster Genehmigung des Rektors Johann Hornschuh das junge Volk zwei Stunden vor dem üblichen Schulschluß entlassen.
Obwohl sich der Lehrer nun fast absichtlich um das Treiben der übrigen nicht kümmerte, faßte er mit einem spitzen Blick gerade den ins Auge, der hiezu nach gewöhnlichen Pädagogenbegriffen am wenigsten herausforderte: Den blassen Jungen nämlich, der unbeteiligt abseits stand und offensichtlich nicht recht wußte, was er tun sollte.
Aber auch für diesen Knaben hatte der Lehrer nicht allzuviel Zeit. Er murmelte bloß etwas von „Ordnung schaffen“ und „Schüler Leibniz“ in sich hinein und schüttelte dann alle Berufssorgen recht brüsk von sich ab, um seinen Vaterpflichten umso schneller genügen zu können.
Als sich die Mitschüler, deren jeder die geschenkten zwei Stunden irgendwie nutzbringend anwenden wollte, zu verlaufen begannen, faßte der kleine Leibniz einen eigentlich durch nichts veranlaßten Entschluß. Er entschied sich, vorläufig nicht nach Hause zu gehen, sich auch keinem der anderen Knaben zu gemeinsamem Spiel zuzugesellen, sondern die Welt jenseits der Grenzen zu erforschen, die ihm bisher gesteckt worden waren. In zwei Stunden, so dachte er, könnte man sehr weit vor die Stadt hinausgelangen, und selbst wenn er die zwei Stunden überschritt, würde die alte Muhme kein Aufheben davon machen. Die Mutter, das wußte er, würde erst um vier Uhr zu Hause sein, da sie über Mittag Verwandte besuchte.
So preßte der Knabe seine wenigen Bücher und Hefte an sein ärmliches Schülerwams und ging mit vorgeneigtem Kopf durch schattig enge, spitzgiebelflankierte Gassen zum nordwestlichen Stadttor, von wo der Weg in das ihm schon bekannte Wäldchen von Rosental und von dort ins unerforschte Fremde hinausführte.
Wie es bei seinem Alter – Gottfried Wilhelm Leibniz zählte damals eben erst acht Jahre – nicht anders zu erwarten war, spielte sein Geist eine merkwürdige Doppelrolle. Alles was sonst Kinder dieser Entwicklungsstufe bemerken, etwa Verkaufsstände mit lockenden Waren, Passanten, die ihn durch irgend etwas zum Lachen oder zu purem Interesse herausforderten, oder schließlich den angenehmen Duft des Frühlings, bemerkte er auch. Er bemerkte es sogar mit besonderer Schärfe und Deutlichkeit, da er allein wanderte und dadurch desto verantwortlicher war. Aber gleichzeitig ließ ihn wieder der Eindruck der letzten Schul-Ereignisse nicht los, die ja ebenfalls in diesem Alter mit besonders hoher Wichtigkeit sich der Einbildungskraft aufdrängen.
Und da erregte ihn vornehmlich der noch ungeklärte Zusammenprall mit dem Lehrer Tilemann Bachusius, der sich vor etwa einer Stunde zugetragen hatte. Zusammenprall war eigentlich übertrieben. Der Knabe fühlte nur dumpf, daß etwas nicht in Ordnung war.
Es war so gekommen: Schon vor einigen Monaten hatte der Knabe im Hause unter Gerümpel zwei Bücher entdeckt, die nach Aussage der Muhme vor vielen Jahren, als der Vater noch lebte, ein Student versetzt hatte. Da sich niemand weiter um diese Bücher kümmerte, hatte der Knabe sie sich kurzer Hand angeeignet und hatte sie zu studieren begonnen. Das eine Buch war ein Livius, eine römische Geschichte mit Holzschnitten und Figuren. Das andere ein chronologischer „Thesaurus“ von Sextus Calvisius, also ein Schatzkästlein des Wissens, vor allem des geschichtlichen Wissens. Nun hatte sich, da diese beiden Bücher in lateinischer Sprache verfaßt waren, der kleine Leibniz ein deutsches chronologisches Buch verschafft und hatte es so oft mit dem „Thesaurus“ verglichen, bis er sich, Schritt vor Schritt, ohne jedes Wörterbuch, in die lateinische Sprache hineingetastet hatte und nun auch schon den Livius ganz gut verstand.
Brennender Ehrgeiz hatte ihn nach dieser ersten selbständigen Leistung überkommen und er hatte viele Wochen schon auf eine Gelegenheit gewartet, sein Geheimnis dem von ihm sehr geliebten Lehrer zu entdecken. Diese Enthüllung würde ihm, so hatte er mit Sicherheit erwartet, ein besonderes Lob des Magisters und große Achtung der Mitschüler eintragen.
Eben heute nun, vor etwa einer Stunde, war die Gelegenheit dagewesen, wo er nach einer zufälligen Frage des Lehrers, der einige oberflächliche Bemerkungen über das antike Rom machte, die Gedanken des Lehrers weiterspinnen und mit echten lateinischen Zitaten belegen konnte.
Anfänglich hatte ihm der Lehrer, der vielleicht wegen der bevorstehenden Kindstaufe etwas geistesabwesend war, ruhig zugehört; um so mehr, als ihm ja die bekannten Zitate nichts Unerhörtes sagten. Als aber einige erregte Mitschüler in großer Angst zu fragen begannen, ob sie dies alles auch können müßten, erfaßte Bachusius plötzlich die Absonderlichkeit der Antwort des jungen Leibniz. Er hatte sein strenges Gesicht sogleich in zahlreiche Fältchen gelegt und nun seinerseits den Knaben gefragt, woher er sein Wissen habe und ob er gar vielleicht der Ansicht sei, daß die berühmte alte Nicolai-Schule ihren Schülern nicht genügend Wissenswertes biete.
Der Knabe war über den gereizten Ton erschrocken, hatte aber gleichwohl freimütig erklärt, wie er zu seiner Weisheit gekommen sei. Als er erzählt hatte, daß er kein Wörterbuch besitze, hatte sich Bachusius erregt die Ohren zugehalten. Der Lehrer hatte schließlich weiter nichts gesagt, sondern nur mit beiden Händen abgewinkt und war sofort sehr unvermittelt auf andre Unterrichtsgebiete übergegangen. Nicht ohne ab und zu dem Knaben Leibniz einen spitzen, beschwörend verweisenden Blick zuzuwerfen.
Jedenfalls war aus der ehrgeizigen Hoffnung alles andre als eine Erfüllung geworden. Warum das so gekommen war, verstand Leibniz nicht. Verstand weder das Aufbäumen der Mitschüler gegen seine Leistung, wo er doch stets jeden Erfolg der Kameraden neidlos bewundert hatte. Er verstand aber noch weniger den Lehrer, der immer betont hatte, daß die Welt nur durch Wissen weitergelange und daß nur der ein sicheres Wissen erwerben könne, der es sich so früh als möglich aneigne.
Warum galten diese Sätze plötzlich nicht für seine Bemühungen? Wo er doch alles, was die Schule forderte, lückenlos beherrschte?
Doch verschwammen diese erregenden Gedanken, als er das Stadttor im Rücken hatte und als ihn wieder die Eindrücke des knospenden Waldes, des kleinen Flusses und der singenden Vögel gefangen nahmen.
Nach einer Wanderung, deren Länge er aus den stets in weiterer Ferne verwehenden Glockenschlägen der Türme Leipzigs schon auf weit mehr als eine Stunde schätzte, kam es ihm plötzlich zu vollem Bewußtsein: Was wollte er eigentlich? Wohin noch trieb es ihn?
Er stand jetzt auf einem holprigen Fahrweg auf ziemlicher Höhe. Zur Linken ragte eine verfallene Windmühle, deren morsche Flügel zerspellt herabhingen. Auch die gemauerten Flanken der Mühle zeigten Löcher und Risse. Und wenn der Wind in diese Mauern und Balken fuhr, gab es schaurig knarrende, ächzende Töne.
Der Knabe sah über den weiten Umkreis, der sich ihm bot. Er hatte Felder, freundliche Dörfer, Viehherden erwartet. Was er jedoch erblickte, war Öde. Irgendwo gab es Häusergruppen, kaum weniger verfallen als die Windmühle. Dazu klumpige brache Flächen, leere Wiesen, ferne drohende Gehölze.
Erst jetzt erinnerte er sich, daß er auf seiner ganzen Wanderung nach Verlassen des Rosentals kaum einem Menschen begegnet war. Die Einsamkeit begann ihn zu bedrücken und leise Furcht kroch ihn an. Es war aber eine Furcht, die ihn lähmte und hinderte, sogleich umzukehren und möglichst rasch die schützenden Mauern der Heimatstadt zu suchen.
So setzte er sich an den Fuß der Windmühle auf einen Stein und war höchst erfreut, als er irgendwo im Norden ein Rauchsäulchen entdeckte und einige Menschen auf einem entfernten Weg dahinschreiten zu sehen glaubte.
Er fühlte genau, daß er in diesen unheimlichen Weiten etwas erblickt hatte, was ihm bisher von allen verborgen worden war. Eine Welt gleichsam, die voll von unbekanntem Schicksal war.
Er war in seine unklaren Überlegungen derart vertieft, daß er namenlos erschrak, als plötzlich ganz in seiner Nähe knirschend ein plumpes Bauerngefährt, von zwei Rossen gezogen, auftauchte und auf ihn zuholperte.
Der Kutscher dieses Wagens sah sonderbar genug aus. Er stak in einem schweren Lederkoller, wie es die schwedischen Reiter im verflossenen Kriege zu tragen pflegten und hatte ein rostiges langes Stoßrapier umgeschnallt. Sein blondborstiger Bauernkopf war unbedeckt. Hinter ihm auf den Säcken, die den Wagen füllten, hockte ein kleiner Mann in der bestaubten und zerschlissenen Tracht eines Magisters.
Der Kutscher hatte den Knaben nicht bemerkt, obgleich er zur Mühle hinschielte. Anders jedoch der Magister. Dieser hatte sogleich seine unsäglich traurigen Augen auf den kleinen Leibniz gerichtet, hatte den Kutscher an der Schulter gefaßt und ihn veranlaßt, stehen zu bleiben.
„Was treibst du dich in der Einöde umher, Kleiner?“ fragte der Magister mit matter, heiserer Stimme in einer dem Knaben fremden deutschen Mundart. „Bist der Schule entlaufen, he?“
Der Knabe trat schüchtern an das Gefährt.
„Ich bin ein wenig spazieren gegangen. Uns wurden heute zwei Stunden des Unterrichts geschenkt.“
„Bist wohl aus Leipzig?“
„Gewiß. Aus der Nicolai-Schule.“
„Willst du dich zu uns auf den Wagen setzen und mit uns zurückfahren? Du scheinst nicht zu wissen, was du tust.“
Der Kutscher brummte:
„Wär nicht das erste Mal, daß ein dummer Junge aufs Land herausgelaufen ist und nicht mehr in die Stadt kam. Setz dich neben den Magister um Jesu Christi willen! Ich schenke dir den Fahrtlohn.“ Und er wieherte gutmütig.
Vor dem Bauern allein hätte sich der Knabe gefürchtet. Der Magister jedoch flößte ihm Vertrauen ein. Und er schwang sich behend und erlöst auf die Säcke und Ballen.
Der Kutscher drehte sich, bevor er die Pferde antrieb, noch einmal herum. Er schlug an sein Lederkoller und an seinen rostigen Degen.
„Ja, Kleiner, so weit sind wir noch, daß ein friedlicher Bauersmann die paar Meilen bis Leipzig geharnischt fahren muß. Hab das Zeug da oben bei Breitenfeld herausgegraben, wo sich der Schwede zweimal mit den Kaiserlichen schlug. Erst knapp vor der Stadt leg ich die Wehr ab. Hier draußen kann man sie jeden Augenblick brauchen.“ Er spuckte wütend aus und trieb die Pferde an.
„Wir wollen aber den Knaben doch nicht zu sehr ängstigen“, begütigte der Magister, wobei der furchtbar traurige Ausdruck seiner Augen sich kaum änderte.
Als sie schon einige Zeit gefahren waren, begann der Magister plötzlich schnell und stoßweise zu erzählen. Und das unheimliche Bild, das der Knabe instinktiv gesehen hatte, das ihm die Mühle, die zerrissenen, brachen Felder gezeigt hatten, wurde weiter und weiter, begann sich vom Rhein bis zu den Grenzen Polens und von der Donau bis an die Ufer der Nord- und Ostsee auszudehnen.
Auf Usedom hatte der Magister eine Schule geleitet, hatte allen Schrecken des Dreißigjährigen Krieges erlitten und war seit Jahren auf der Wanderung. Stets wieder, wenn er sich wo seßhaft gemacht hatte, verfolgt von Unglück und Niederbruch.
Zwölf Millionen fleißiger Menschen, so hörte der kleine Leibniz, hatten vor dem Kriege Deutschland bevölkert. Jetzt waren es kaum mehr vier. Seuchen wüteten noch in Süd und Nord und Ost und West. Landsknechte zogen noch immer plündernd umher, Räuberbanden und Zigeuner lauerten an den Straßen und in den Wäldern. Gewiß, es wurde von Jahr zu Jahr besser, sicherer, lebenswerter. Aber noch stets sei Deutschland ein Trümmerhaufen wie jene zerschossene Mühle. Nein, es würde sich nie, nie mehr erheben können, dieses unglückselige Land. Denn schon lauerte der Franzose, der Türke, der Schwede, um dem entvölkerten Chaos den letzten Rest zu geben. Was dem Knaben wohl eingefallen sei, sich aus der Stadt in die Öde hinauszuwagen? Wo es doch bekannt sei, daß Schnapphähne Kinder zusammenfingen, um sie als unauffällige Spione zu gebrauchen, oder für ihre Freigabe Lösegeld zu erpressen?
Ja, so sei es mit Deutschland bestellt, von den Reichen der Kunst und Wissenschaft ganz zu schweigen. Wer hätte auch Zeit dazu, Ruhe und Willen?
Er, der Magister, wolle es nocheinmal in Leipzig versuchen. Vielleicht könne man ihm dort irgend ein bescheidenes Plätzchen gewähren. Er sei müde, ach so sterbensmüde wie das ganze deutsche Land. Und es träten ihm die Tränen in die Augen – ansonst habe er das Weinen verlernt – wenn er die Knaben und Mädchen ansähe. Was sollte aus denen werden?
„Sie werden vielleicht die öden Felder wieder pflügen, die Windmühlen aufbauen und die Räuber hinausjagen“, sagte der Knabe vor sich hin.
„Vielleicht werden sie es. Vielleicht, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Gott schenke deinen Worten Wahrheit!“ Wie ein heiserer Schrei kam die Antwort des Magisters.
„Ihr werdet mich in Leipzig besuchen, Herr Magister. Ich schulde Euch Dank. Meine Mutter wird sich freuen, daß Ihr mich vor der Einöde beschützt habt“, sprach Leibniz plötzlich mit hoher, heller Stimme. „Ich heiße Gottfried Wilhelm Leibniz, wohne in der Neutorgasse nächst der Schenke ›Zum Löwen‹. Man kennt uns dort und wird Euch das Haus zeigen.“
„Das habe ich nicht gemeint, als ich dich am Wege auflas“, antwortete der Magister erschrocken. Als er aber den verlegenen Ausdruck des Knaben sah, setzte er sogleich begütigend hinzu: „Ich werde dich besuchen. Wir wollen dann weiter über Deutschland sprechen.“
Noch in Rosental entledigte sich der Kutscher seines Wamses und Degens und schob beides unter die Mehlsäcke. Der Knabe Leibniz empfahl sich mit vielen Dankesworten knapp vor dem Stadttor von seinen beiden Beschützern und hüpfte übermütig, als er zwischen freundlichen und bekannten Menschen durch die engen Gassen über das holprige Pflaster seinem elterlichen Hause zustrebte.


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